Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
seinen schweren Körper herumzuwuchten.
    Madoka war über ihm durchgehuscht und auf der Türseite wieder herabgekommen. Sie hastete in den Vorraum hinaus und packte Dr. Nomura, die das Geschehen von dort aus beobachtete. Sie zerrte die Ärztin an sich.
    Das Ungeheuer kam heran. Doch es verlangsamte seine Schritte. Der breite Mund in dem winzigen Gesicht stieß schrille Laute aus, die Füße stampften vor Wut auf. Die Situation schien ihm nicht zu gefallen.
    „Lassen Sie mich los, Sie Wahnsinnige!“, keuchte die Ärztin.
    „Ich werde darüber nachdenken. Sobald Sie ihn zurückpfeifen.“
    „Das … kann ich nicht.“
    „Dann bleiben Sie meine Lebensversicherung.“
    Kaum hatte Madoka die Worte ausgesprochen, erkannte sie, wie sehr sie sich irrte. Das Geschöpf hatte sich für einige Sekunden irritieren lassen, doch nun hatte sein einfaches Gehirn die Situation verarbeitet, und es hatte eine Entscheidung getroffen.
    Es griff an!
    Natürlich! Der Hass in ihm war so viel größer als alles andere. Wo hätte es andere Gefühle als Hass auch hernehmen sollen? Aus den zahllosen Teilen vielleicht, aus denen die Medizinerin es zusammengesetzt hatte? Was seinen Verstand einte, war die Aggression – der Hass war der Klebstoff, der dieses Geschöpf zusammenhielt.
    Eine Pranke zuckte nach vorne. Madoka wich zur Seite und zog auch Dr. Nomura aus dem Gefahrenbereich. Die Fingernägel schrammten leicht über die Schulter der Ärztin, und sie stieß einen langgezogenen Schrei aus. „Lassen Sie mich!“, kreischte sie. „Es will nicht mich !“
    „Wollen wir wetten?“, zischte Madoka.
    Trotzdem konnte sie nicht zulassen, dass die Bestie die Ärztin tötete. Mit ganzer Kraft stieß sie ihre Geisel von sich, dass diese gegen die Fahrstuhltür krachte. Das Monster jagte heran, seine Arme wie Windmühlenflügel rotierend. Dass seine Hände ständig gegen Wände und Decke schlugen, schien das Wesen nicht zu kümmern. Es war den Schmerz gewöhnt, seine Gliedmaßen bedeckt von Narben und Schrammen.
    Zwei Fäuste hämmerten links und rechts von Madoka gegen die Wand.
    Sie ließ sich fallen, rollte über den Boden. Ein Fuß kam vor ihr herab, stoppte ihre Bewegung. Im nächsten Moment hatte eine der Pranken sie erwischt und zerrte sie nach oben. Eine Hand schlug ihr frontal ins Gesicht, zuerst gegen die Stirn, dann in die Zähne. Sie erkannte, dass es die zuckende, nutzlose Hand war. Und war dankbar dafür.
    Zwei Schläge platzierte sie in die Magengegend des Wesens, ohne damit eine Wirkung zu erzielen. Wer konnte schon sagen, wo die einzelnen Organe lagen, wo die empfindlichen Stellen lokalisiert waren, falls es überhaupt welche hatte? Der Hüne packte sie fest um die Taille, hob sie hoch und schleuderte sie von sich, wie er es mit dem Feuerlöscher getan hatte.
    Madoka flog auf die Wand mit den Schubfächern zu. Sie streckte die Arme aus und dämpfte den Aufprall. Dennoch war er noch hart genug, um jeden ihrer Knochen durchzuschütteln. Stöhnend kam sie auf dem Boden auf, spuckte ein bisschen Blut. Es kam nicht aus ihrem Magen, sondern von den Zähnen. An ihrem Gebiss war etwas nicht in Ordnung. Etwas sagte ihr plötzlich, dass sie schlechte Karten hatte – wirklich schlechte Karten –, diesen Ort lebend zu verlassen.
    Sie startete weitere Attacken. Ihre Handkanten bearbeiteten den Kopf des Wesens, kurze, Tritte zielten auf seinen Unterleib, Tritte, die einen Menschen bewusstlos geschlagen hätten. Madoka traf ihre Ziele mühelos. Doch das Ungeheuer schien kein Schmerzempfinden zu haben. Kein Wunder, dass es sich in seinem Gefängnis die Hände blutig schlug.
    Das Monster drehte sich schwungvoll um, und der schlaffe Arm, dem sie keine Beachtung geschenkt hatte, klatschte in ihre Hüfte. Es war ein Fehler gewesen, die Ärztin loszulassen. Madoka hatte nicht zusehen können, wie das Geschöpf die Frau zu Brei verarbeitete. Jetzt würde sie selbst dieses Schicksal ereilen.
    Dieses Ding war massig, aber deswegen nicht schwerfällig. Seine schwache Intelligenz wurde von einem erstaunlich gut entwickelten Instinkt wettgemacht. Je länger es kämpfte, desto geschickter wurde es. Die winzigen Augen beobachteten jede von Madokas Bewegungen, und immer öfter durchkreuzte das Wesen ihre Angriffe, stoppte blitzschnelle Schläge, indem es sie im Ansatz erstickte, mit seinen stahlharten Gliedmaßen dazwischen ging. Mehrmals hatte sie das Gefühl, ihre Knochen müssten dabei zu Bruch gehen.
    Madoka hatte noch nie einen Menschen getötet.

Weitere Kostenlose Bücher