Falkengrund Nr. 29
China gehen. Wie damals. Damals hatte ich getötet – meinen Schutzgeist – und brauchte einen neuen Anfang. Heute Nacht habe ich etwas Ähnliches getan. Ich werde meine alten Meister aufsuchen und sie um Verzeihung bitten. Ich habe ihre Lehren benutzt, um ein Wesen zu töten, ehe es einen Augenblick des Glücks erleben konnte.“
Ihr Vater antwortete nichts darauf. Er schwieg eine halbe Stunde mit ihr in der Stille des Zimmers (ihre Mutter hatte sich ängstlich zurückgezogen). Dann sagte er:
„Du musst tun, was du für richtig hältst.“ Er räusperte sich. „Ich habe da übrigens noch etwas herausgefunden, im Zusammenhang mit dieser Ärztin. Es tut wahrscheinlich nichts zur Sache … na ja … es ist sicher nur ein Zufall, aber …“
Madoka sah ihn aus geröteten Augen an. „Wovon redest du?“
„Diese Dr. Nomura – sie erzählte mir, sie sei früher mit einem Ausländer verheiratet gewesen. Sie sagte außerdem, er sei tot.“
„Ja … und?“
„Es hat mich interessiert. Ich habe in Ärztekreisen ein bisschen herumtelefoniert und herausgefunden, wie dieser Mann hieß. Er war Deutscher. Sein Name war Löwe, Hannes Löwe.“
Madoka war im Begriff, gelangweilt die Schultern zu heben. Da hielt sie inne. „Löwe ist nicht gerade ein häufiger Nachname. Auf Falkengrund habe ich einen Kommilitonen, der Michael Löwe heißt …“
„Ich weiß“, erwiderte Dr. Andô. „Ich habe ihn gesehen, als ich durch Melanies Augen den Alltag auf Schloss Falkengrund verfolgte. Ein merkwürdiger Kerl, wenn ich das so sagen kann.“
Madoka blickte perplex ins Leere.
ENDE DER EPISODE
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Nr. 53 -
Bluttat
1
Dass der Tag etwas Unangenehmes bringen würde, hatte Dirk Fachinger schon geahnt. Das Unglück kam wie ein riesiger Tatzelwurm behäbig auf ihn zugekrochen, ein gewaltiger Schatten, der sich über ihn legte, bis keine Flucht mehr möglich war.
Der Hauptkommissar der Kripo Freudenstadt kämpfte seit Tagen mit einer Virusgrippe. Ihren Höhepunkt hatte sie am Abend des Vortages erreicht. Ein dumpfer, fiebriger Druck hatte sich geduldig in seinem Kopf ausgebreitet, war zuletzt so übermächtig geworden, dass er das meiste von dem auslöschte, was Fachinger bisher für seine Persönlichkeit, sein Ich gehalten hatte. Er wusste nicht, wie er in diesem Zustand überhaupt nach Hause gekommen war. Die Winternacht war von tropischer Hitze und wirren Träumen voll gewesen, von einem schmerzhaften, lärmenden Husten und Gliederschmerzen. Abends hatte er beschlossen, sich am nächsten Tag auf keinen Fall mehr in die Direktion zu schleppen. Während der Nacht hatte er sogar drei Mal von dem Anruf geträumt, mit dem er sich abmeldete. Jedes Mal war jemand anderes am anderen Ende gewesen, einmal sogar Gott.
Doch er hatte vergessen, den Wecker abzustellen. Als das rasselnde Klingeln ertönte, ordnete er sich wieder in den täglichen Ablauf ein. Die morgendlichen Rituale gingen ihm erstaunlich leicht von der Hand, die Schmerzen hatten nachgelassen, nur ein Schwindel begleitete ihn noch und natürlich der Wechsel von Hitzewallungen und Schüttelfrost. Daran hatte er sich beinahe gewöhnt.
Er stellte fest, dass sein Auto nicht in der Garage stand. Also musste ihn jemand nach Hause gefahren haben. Fachinger rief ein Taxi, nahm auf dem Rücksitz Platz und würgte seine Medikamente trocken hinunter. Seinen Arbeitsplatz erreichte er pünktlich, mit einem bitteren Geschmack im Mund.
Pünktlich kam auch der Vorfall in der Herrenfelder Straße, das Unangenehme, das er vorausgeahnt hatte.
Wohnungsnachbarn hatten Schreie und Kampfgeräusche aus einem Zwei-Zimmer-Apartment gehört und die Polizei verständigt. Zwei Beamte der Bereitschaft hatten die Adresse vor einer halben Stunde angefahren und mussten, als ihnen niemand öffnete, die Tür eintreten. Was sie in der Wohnung vorfanden, hatte Fachingers Mitarbeiter, der quirlige Kommissar Santiago Faro, auf ein Blatt Papier gekritzelt. „Wahrscheinlich Mord, vielleicht auch Körperverletzung und Entführung“ lautete die hastig hingeworfene Überschrift, die Faro mehrmals eingekreist hatte.
„Müsste ich das verstehen?“, brummte Fachinger und ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. Lautstark und anhaltend kratzte er sich den Backenbart. Gerade eben war er ins Büro gekommen, hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, seinen Mantel an die Garderobe zu hängen. Sitzend sah er in dem dicken Wintermantel aus wie ein in Lumpen gehülltes, unförmiges Etwas. Er wusste das.
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