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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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entlang der Wirbelsäule förmlich sah, die sich schwach auf dem muskulösen Rücken abzeichnete.
    Sie hob die Schere, öffnete sie zwei Zentimeter. Stach mit aller Kraft zu. Zog die Klingen wieder heraus. Brüllte und stach erneut zu. Und noch einmal.
    Sie hatte keine Zeit, die Wirkung der einzelnen Stiche abzuwarten und ihre Position eventuell zu korrigieren.
    Das Wesen warf sich herum, stierte sie wütend an.
    Keine Anzeichen, dass es tödlich getroffen war. Keine Anzeichen, dass es Schmerzen hatte. Die Schere war Madoka aus der Hand gerissen worden. Sie steckte noch weit unten in seinem Rücken.
    Das Geschöpf sah sie an. Aufmerksam, wie es schien.
    Es lebt , dachte sie. Ich habe versagt.
    Etwas ging in den kleinen Augen vor. Die Arme waren erhoben, der Körper aufrecht, voller Kraft, bereit für den nächsten, den vernichtenden Angriff. Doch in den Augen geschah etwas.
    Sie verloren ihren Glanz. Sie wurden zu stumpfen grauen Murmeln. Der Tod erwachte in der Tiefe dieser Augen, ergoss sich durch die Pupillen über ihre gesamte Oberfläche. Noch lange reagierte der Körper nicht. Er bewegte sich weiter, kam näher, schwankte nicht, krümmte sich nicht.
    Madoka wich noch einmal zurück, überzeugt, dass sie ihm nicht mehr entkommen würde.
    Die Muskelberge auf den Schultern spannten sich. Sie waren gesund und voller mörderischer Kraft. Der zuckende Arm schnappte weiter in irrwitzigem Rhythmus vor und zurück, auf und ab.
    Dann … hatte die matte Schicht die Augen vollkommen überzogen.
    Der gewaltige Leib befand sich mitten in der Bewegung, als er plötzlich zur Seite kippte. Er prallte gegen die Schrankwand des Labors, riss Regale herunter. Die Pranken suchten nicht mehr nach einem Halt, das Zucken des überzähligen Armes hatte von einem Augenblick zum anderen aufgehört. Das scheinbare Grinsen des breiten Mundes hatte sich entspannt.
    Alles Leben hatte den Körper verlassen, noch ehe er auf dem Boden aufschlug.
    Ungläubig stand Madoka zwei Schritte vor dem Geschöpf. Sie wandte den Blick nicht davon ab, auch nicht, als sie Dr. Nomuras Anwesenheit dicht hinter sich spürte. Madoka stürzte sich am Türrahmen. Ihre Knie zitterten.
    Es waren nicht allein die Strapazen des Kampfes, die sie schwächten. Es war der Anblick der Kreatur. Der von ihr getöteten Kreatur.
    Als sie die Augen schloss, tauchten die Gesichter ihrer chinesischen Lehrer aus der Dunkelheit vor ihr auf. Ihre Mienen wirkten nicht vorwurfsvoll. Sie waren lediglich voller Ernst und schienen sie zu mustern. Zu warten, was sie als nächstes tun würde.
    „Sie haben ihn getötet“, hauchte Dr. Nomura. „Das … hatte er nicht verdient.“
    Jetzt drehte Madoka den Kopf und sah das hässliche, kantige Gesicht der Ärztin an. „Sie haben recht“, sagte sie leise. „Aber dafür habe ich die, die es verdient hätte, verschont.“
    Die Ärztin sah sie verstört an und schlurfte zu der Schalttafel, um den Aufzug zu rufen.
    Es war kalt in dem unterirdischen Stockwerk, und die Kälte schien aus den Schubfächern zu dringen. Als drängten die Toten, die dort schliefen, in die Freiheit, um zu sehen, was vorgefallen war. Um zu sehen, wie die Teile, die ihren Körpern entnommen worden waren, ein zweites Mal gestorben waren.
    Vielleicht waren sie glücklich, dass sie nicht in dieser Form weiterleben mussten.
    Vielleicht hassten sie Madoka, weil sie ihnen ihr zweites Leben zunichte gemacht hatte.
    Vielleicht waren sie auch nur einfach tot.
    Tot und kalt.

6
    Als Madoka zu Hause ankam, sprach sie mit niemandem, sondern nahm zunächst ein heißes Bad. Das Bad erinnerte sie daran, wie sie versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Damals war sie von ihrem Schutzgeist gerettet worden, hatte ihn allerdings dabei geopfert. Danach war sie nach China gegangen, geflohen , hatte die Kampfkünste erlernt und dadurch einen neuen Weg gefunden, sich zu schützen.
    Heute hatte sie auch diesen Weg verraten. Hatte getötet, obwohl ihr das verboten war.
    Als sie aus dem Bad kam, war sie rot, aufgeweicht, zerzaust, von violetten Hämatomen überzogen, und ihre Augen blickten wie im Fieber. Stumm setzte sie sich an den Tisch im Wohnzimmer. Ihre Mutter stellte ihr einen Tee hin, und ihr Vater nahm ihr gegenüber Platz. Nachdem sie eine Minute in den Tee gestarrt hatte, sagte sie:
    „Hier in Japan gibt es für mich nichts mehr zu tun.“
    „Wie meinst du das?“ Dr. Andô wirkte alarmiert.
    Madoka nippte an dem Tee und verzog das Gesicht, weil er zu heiß war. „Ich werde nach

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