Falkengrund Nr. 30
kann? Der Baron braucht die beruhigende Kraft von Charmaine, um seinen Wahnsinn und seine Verzweiflung zurückzuhalten. Er benutzt die Käfer, um diese Kraft in winzigen Dosen zu bekommen. Bis vor zwei Jahren lagen seine Gebeine in einer Kiste auf dem Dachboden. Dann haben die Käfer sie in tausend Stücken im Garten vergraben. Wir haben zwei Pole, Charmaine und den Baron. Zwischen diesen Polen fließen die Käfer hin und her, und mit ihnen entstehen die Fäden des Netzes. Gedankenstraßen könnte man sie nennen. Solange die beiden Pole bestehen, funktioniert die Magie des Netzes.“
„In dieser Geschichte steckt ein Widerspruch“, warf Edeltraud ein. Ihr Denkapparat konnte einfach nicht aufhören zu analysieren. „Wenn es den Geist des Barons nach Charmaines beruhigender Kraft dürstet, warum lässt er diese Kraft dann auf so umständliche Weise zu sich kommen? Warum betritt er nicht einfach Charmaines Zimmer und holt sich, was er braucht?“
Erwin schmunzelte süffisant. „Er besucht Charmaine. Er durchschreitet die Wand ihrer Kammer und ist bei ihr. Als Geist. Aber sein Leib braucht ihre Zärtlichkeiten ebenso.“
Edeltraud verzog das Gesicht. „Sein Leib, der im Garten verstreut ist, wird von den Käfern liebkost, die zuvor über den Körper dieser Frau gekrochen sind?“
„So seltsam ist die Welt, liebste Edeltraud. Eine Welt der Fetische, der Analogien und Ersetzungen. Eines Tages wird man das Bild eines Menschen ebenso lieben, nein, noch mehr lieben als die Person selbst. Die Menschen werden nur noch die Echos von Stimmen hören, die Abbilder von Gesichtern sehen, die Schatten von Körpern, die Abdrücke von Füßen. Der Fortschritt ist das, was er ist: ein Schritt fort. Fort von dem Eigentlichen, hin zum Übertragenen, zum Symbolischen. Ich bin kein großer Theoretiker, mehr ein Mann der Praxis, aber ich glaube, das Problem, das Gespenster haben, ist dass sie ihre Seele nie ganz von ihrem Körper zu lösen vermögen. Zu sterben bedeutet die Trennung von Leib und Seele, doch die Geister, die in unserer Welt gefangen sind, bleiben an ihren Körper gekettet, in irgendeiner Weise. Der Leib des Barons braucht Charmaines wohltuende Berührung, aber er kann sie nicht auf natürliche Weise erlangen. Anstatt auf sie zu verzichten, wählt er den Ersatz. Wie ich schon sagte: Das ist der Fortschritt. Hier bei uns und auch drüben in der Neuen Welt werden in diesen Jahren unablässig Erfindungen gemacht. Fast alle erfüllen sie denselben Zweck: Das Echte und Natürliche durch künstliche Abbilder zu ersetzen, das echte Sehen durch Filme, das echte Sprechen durch Telefonate, die Pferde durch das Automobil, die Handschrift durch die Maschinenschrift, die menschliche Sprache durch Morsecodes und Lochkarten. Die Zukunft ist unaufhaltbar, also setze ich mich hinter das Steuer, ehe sie mich steuert. Eine Sache, die ihr einfachen Gemüter nie verstehen werdet, ist …“
Erwin unterbrach sich. Sein Kopf ruckte herum. Auch Edeltraud hatte sich von ihm abgewandt und starrte auf einen Punkt neben der Treppe. Dort formte sich etwas. An der Stelle, an der es entstand, wurden die Filmbilder farbig, geradezu grell und gestochen scharf. Gleichzeitig schien sich der Raum aufzublähen, und die Konturen einer Gestalt erschienen, zuerst mehrfach und schwach, dann vereinten sich die Bilder zu einem einzigen Körper. Abseits am Rande der Halle flammte ein Blitzlicht dreimal in rascher Folge auf und explodierte dann mit lautem Knallen. Das Morsegerät begann zu rasen, gab nur noch eine schnelle Reihe von Punkt-Signalen von sich.
Die Erscheinung trug einen braunen Jagdrock. Die kräftigen Beine steckten in schweren, hohen Stiefeln, und in der Rechten hielt die Gestalt eine Reitpeitsche. An der Spitze der Peitsche zuckten elektrische Entladungen. Wenn der Mann die Peitsche bewegte, schienen die Lichter an den Wänden ihr mit ihrem Schein zu folgen. Die Gestalt schwebte.
Edeltraud zweifelte keine Sekunde daran, den Baron von Adlerbrunn vor sich zu haben. Trotz der unwirklichen Umgebung, die ihren Kontakt zur Realität von Minute zu Minute erschwerte, entwickelte der Spuk eine machtvolle Präsenz, die die Projektionen in den Hintergrund rückte. Alles schien ihm untergeordnet, das Haus und die Menschen darin, die Naturgesetze. Der 19-jährigen, die in der letzten halben Stunde tapfer gewesen war, knickten die Knie weg. Sie konnte nicht verhindern, dass sie zusammensackte und sich ungewollt auf den Hintern setzte. Der Baron erschien
Weitere Kostenlose Bücher