Falkengrund Nr. 30
…“
„Hallo, da oben sind wohl noch welche“, gab der Mann an einen anderen weiter, der wie versteinert inmitten der unwirklichen Szenerie stand. „Ihr müsst Türen einschlagen. Hat jemand eine Axt?“
„Eine Axt?“, fragte der Angesprochene tonlos. „Eine Axt?“
„Da draußen gab es eine Art Schuppen oder Stall“, rief ein anderer. „Ich seh‘ nach.“
„Beeilen Sie sich!“, flehte Edeltraud.
Als man sie durch die Tür nach draußen schleppte, war sie überrascht von all den Menschen, die sich vor dem Schloss tummelten. Sie hatten Fackeln entzündet, und einige trugen Öllampen. Insgesamt mussten es mehr als zwei Dutzend sein, Männer und Frauen.
„Es ist Lorenz von Adlerbrunn“, erklärte sie allen, ob sie es hören wollten oder nicht. „Der Baron. Er wird das Schloss zerstören, glauben Sie mir, es ist nur eine Frage der Zeit. Die Leute sollen Samuel, Konrad und Charmaine retten und dann keine Sekunde mehr im Haus bleiben. Es gibt dort nichts zu sehen. Wenn Filme ablaufen, sehen Sie nicht hin. Nehmen Sie klingelnde Telefone nicht ab!“ Als sie sich etwas beruhigt hatte, fragte sie die Frau, die sich jetzt über sie beugte: „Wo kommen Sie alle her? Warum sind Sie mitten in der Nacht hier oben?“
„Wir hatten gehört, dass auf Falkengrund … etwas geschieht. Wir wollten sehen, was. Wir wollten dabei sein.“
„Unmöglich“, mischte sich eine schwache Stimme ein. Edeltraud erkannte Erwin, der nur wenige Meter von ihr entfernt auf dem Rasen lag und mühsam den Kopf hob. Sein Gesicht war blutverschmiert, seine Brille zerbrochen. „Ich habe nur fünf Käfer ausgesandt … nur fünf Menschen eingeladen …“
Edeltraud lachte bitter. „Manchmal kommen ungebetene Gäste – zum Glück!“ In diesen Momenten liefen weitere Personen vom Tor heran. Edeltraud wollte noch etwas hinzufügen, doch sie unterbrach sich, als sie sah, dass man jetzt drei Menschen mitsamt ihren Sesseln heraustrug. Zuerst Konrad, dann Charmaine, und zuletzt Samuel. Sie sahen nicht gut aus, vor allem die beiden Männer nicht, aber sie schienen am Leben zu sein.
Samuel Rosenberg und seine Retter sollten über viele Jahrzehnte hin die letzten Menschen sein, die Falkengrund lebend verließen.
ENDE DER EPISODE
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Nr. 55 -
Michael
1
Gegenwart
Hauptkommissar Dirk Fachinger hatte einen guten Zeitpunkt für den Besuch auf Schloss Falkengrund erwischt. Denn es herrschte Chaos wie selten zuvor.
Die meisten Schüler, die über Weihnachten die Schule verlassen hatten, waren inzwischen zurückgekehrt. Nur Felipe und Enene, die weite Reisen angetreten hatten, waren noch nicht wieder da. Natürlich fehlte nach wie vor Madoka. Und Artur, der Falkengrund den Rücken gekehrt hatte, für immer, wie es schien.
Als Fachinger am Portal klingelte, öffnete ihm Melanie Kufleitner. Das hübsche rothaarige Mädchen machte den Eindruck, gerannt zu sein, und Enttäuschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie ihn sah.
„Sie haben einen anderen erwartet“, stellte der Kripobeamte fest. „Das tut mir leid. Dürfte ich trotzdem eintreten?“
Melanie trat zur Seite. Sie schien zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt zu sein, um ihm den Eintritt zu verwehren. In einer ähnlichen Verfassung befanden sich die meisten Bewohner. Am schlimmsten hatte es den Rektor Werner Hotten erwischt, der mitten in der Halle an einem der großen Tische saß, den Rücken zur Tür, und das Klingeln nicht einmal wahrgenommen hatte.
Er sprang auf, als Fachinger ihm seine Pranke auf die Schulter legte.
„Kommissar!“
„Lange nicht gesehen, Herr Hotten“, begrüßte Fachinger den ehemals Glatzköpfigen, auf dessen Kopf nun wieder ein Haarflaum spross. „Ich hoffe doch sehr, ich störe nicht.“
„Nein, Sie … das heißt …“
„Beruhigen Sie sich.“ Langsam löste sich seine Hand von der Schulter des Rektors. „Ich bin nicht dienstlich hier. Mein Besuch ist eher … privater Natur.“
So konnte man es nennen. Hinter Fachinger lagen turbulente Tage. Ein Mordfall mit übersinnlichem Hintergrund hatte ihn beschäftigt, und im Verlauf der Ermittlungen war mit dem Beamten eine fantastische Veränderung vorgegangen. Über einen Schraubenzieher, der Tatwaffe, hatte er seinen Kollegen quasi die geistigen Kräfte ausgesaugt – ohne es zu wollen zunächst, und später mit voller Absicht. Seine Kombinationsfähigkeiten waren dabei gewachsen. Er vermochte die Welt mit unbeschreiblicher Klarheit zu sehen, Zusammenhänge zu
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