Falkengrund Nr. 30
RETTETE, BEWIES ICH, DASS NOCH EIN REST MENSCHLICHKEIT IN MIR IST.“
Kaum hatte der Spuk diesen Satz zu Ende gebracht, ging die Welt unter. Die mehrere Meter breite Stoffbahn wallte auf wie unter einer Sturmbö und schlug ihnen entgegen. Sie verwandelte sich in etwas Unbeschreibliches, etwas Lebendiges, eine Art vertikale Wasserfläche, auf der sich gelbe Würmer schlängelten. Die Würmer zuckten im Licht der Lampen und reckten ihnen ihre pfeilförmigen Köpfe entgegen. Die Phasen plötzlicher Dunkelheit waren unerträglich. Edeltraud kreischte und schlug mit den Händen um sich. Sie spürte diese Dinger, Gott, sie konnte sie wirklich spüren, an den Händen, im Gesicht. Sie waren schlimmer als alle Käfer dieser Welt.
Die Sturmbö war jetzt auch zu fühlen. Sie war eisig wie im tiefsten Winter und schleuderte im Dunkeln Apparate durch die Luft, trug sie hoch und ließ sie fallen oder zerschmetterte sie an den Wänden. Etwas Scharfkantiges traf Edeltraud an den Beinen.
„Niemals!“, dröhnte eine weibliche Stimme unter Tausenden von verzerrten Echos. „Niemals werde ich zulassen, dass du dorthin gelangst, wo ich bin. Niemals werde ich vergessen, was du getan hast. Niemals werde ich dir vergeben, und niemals werde ich zulassen, dass du eine andere Frau vor dem Tod rettest, während du mich, deine treue und aufrichtige Gattin gnadenlos ermordet hast. Alles, was ich für dich empfinde, Lorenz von Adlerbrunn, passt in ein einziges Wort. Es lautet: Niemals!“
Die Stimme verwandelte sich in ein Kreischen und wurde eins mit dem Sturm. Auf der anderen Seite erhob sich ebenfalls ein Brüllen, dunkel und dämonisch, als donnere und heule ein Löwe, so mächtig wie ein Berg, unter dem Haus.
Edeltraud versuchte, sich in dem Orkan vorwärtszubewegen, auf die Richtung zuzuhalten, in der sie die Tür vermutete. Es regnete nicht (wie sollte es auch regnen, unter einem Dach?), doch stattdessen flogen in der Luft winzige Objekte umher, vielleicht Eissplitter aus dem Jenseits, vielleicht Trümmerteile einer zerschmetterten Treppe, vielleicht Käfer, Millionen von Käfer, die das gemeinsame Blut und die gemeinsamen Gedanken von Charmaine Morice und Lorenz von Adlerbrunn waren. Die Tür war nicht zu finden. Das aufblitzende Licht half nicht weiter – es machte die Augen nur blind und enthüllte ihnen höchstens den blauen Meeresstoff mit den gelben Würmern. Meer und Meeresgetier hatten sich längst rund um sie geschlossen. Wo in diesem Chaos war der Baron, wo Erwin?
Wenn ich hier lebend rauskomme , dachte sie, schreibe ich ein Buch darüber.
Was geschah in diesen Minuten mit Samuel und den anderen? Waren sie in ihren Zimmern geschützt, oder saßen sie hinter den verschlossenen Türen in der Falle? Flogen ihnen die Apparaturen um die Ohren, ohne dass sie ihnen ausweichen konnten? Hatten sie noch Licht? Sauerstoff? Waren sie körperlich überhaupt fähig, diesen Spuk zu überleben?
Edeltraud richtete sich auf.
Etwas traf sie an der Stirn, so heftig, dass ihr Kopf zurückgeschleudert wurde. Sie prallte mit dem Hinterkopf gegen etwas Hartes, vermutlich den Boden. Für ein paar Sekunden behauptete sich ihr Bewusstsein noch, und sie dachte: Ich bin robuster als man meinen möchte. Dann zog sich der Orkan von ihr zurück, langsam und zögernd, aber unaufhaltsam, und mit ihm verschwand alles, was war.
Sie ertrank. Ertrank in einer dunkelblauen Ohnmacht.
6
„He! Das … das … tut weh …“
„Seien Sie still! Können Sie gehen? Dann gehen Sie! Da ist die Tür – können Sie sie sehen? Nein? Dann tragen wir Sie raus. Aber hören Sie auf, sich zu wehren, in Gottes Namen!“
Sie schüttelte den Kopf, weil sie nichts verstand, keine Tür sah. Der Orkan tobte noch immer, aber er war deutlich schwächer geworden. Zwei Männer hielten sie unter den Achseln und schleiften sie durch das Sturmgetöse. Sie konnte ihre Konturen ausmachen, und da war noch ein dritter, vielleicht noch mehr.
„Sie und dieser junge Kerl, mehr sind hier wohl nicht“, sagte der Mann, der sie auf der linken Seite stützte. „Ein Glück – ich will nur eines: raus hier. Hier spukt es, und nicht zu knapp. Der alte Baron, schätze ich.“
„Nein“, keuchte Edeltraud. „Wir sind nicht die einzigen. Da oben … im ersten Stock … sind noch drei Menschen, Samuel … Konrad … und Charmaine. Eingesperrt, in den Zimmern. Sie müssen die Türen einschlagen. Lassen Sie sie nicht hier zurück! Sie haben keine Chance. Vielleicht sind sie schon tot
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