Falkengrund Nr. 30
verzweifelt den Kopf bewegte, um die Neigung der Kerze aufzuheben und dem Wachs zu entgehen, doch sie stellte sich so dumm dabei an, dass ihre Qualen nur noch größer wurden.
Hannes zwang sich, all das zu ignorieren. Er wollte nur noch an sein Kind denken. Den kleinen Keim, der im Bauch seiner Frau gestorben war, wie schon so viele zuvor. Immer wieder hatte er es hingenommen, hatte sich bemüht, stark zu sein, doch dieses Mal war er nicht bereit dazu. Vielleicht war es Stärke, das Unausweichliche zu ertragen, aber vielleicht bedeutete es auch Schwäche, nicht alles zu versuchen. Wenn er sein Kind schon nicht im Arm halten konnte wie andere Männer, dann wollte er wenigstens seine Stimme hören. Erfahren, was es ihm zu sagen hatte.
Er hoffte auf Trost. Aber selbst mit Wut würde er fertig werden. Alles war besser als diese vollkommene Stille, diese schreckliche Leere, die die Fehlgeburt hinterlassen hatte.
Lange Zeit sagte niemand etwas. Dann klang Helgas Stimme auf. Sie war nur ein Flüstern, als trage ein Windhauch sie herbei. „Wir wenden uns einer Welt zu, die anders ist als die unsere und doch aufs Engste damit verknüpft. Nichts, was dort geschieht, geschieht ohne Bezug zu unserer Welt, denn jede Seele, die dort weilt, ist einmal durch das Leben gegangen, sei es für hundert Jahre oder für wenige Augenblicke. Das wollen wir nicht vergessen. Wenn uns etwas fremd vorkommt, dann nur, weil wir selbst uns fremd sind, weil wir lediglich ahnen können, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Seid ihr bereit?“
Die Frauen murmelten ein dumpfes „Ja“, und Hannes schloss sich ihnen an, obwohl er nicht recht wusste, wie man sich zu fühlen hatte, wenn man „bereit“ war.
„Wir kennen nicht die Beschaffenheit der Tore, die die Lebenden von den Toten trennen“, sprach Helga langsam weiter, als formuliere sie ein spontanes Gebet. „Aber wir wissen, wie sie zu öffnen sind. Wir wissen es, weil es in unseren Herzen steht. Es gibt kein Ritual dafür, nur ein Gefühl. Suchen wir dieses Gefühl in uns. Drücken wir die Tore auf, nur einen winzigen Spalt weit, damit unsere Stimme drüben zu vernehmen ist.“
Hannes hörte Räuspern und Husten von den Frauen. Ein Magen knurrte, und von schräg hinter ihm erklang verhaltenes Stöhnen. Er war kurz davor, die Augen zu öffnen, aber er beherrschte sich.
„Hannes, du kannst jetzt zu rufen beginnen. Deine körperliche Stimme darf dabei ganz leise bleiben. Wichtig ist, dass dein Herz aus aller Kraft schreit.“
Er schluckte, und schließlich wisperte er: „Mein Sohn …“ Er spürte, wie bei den Worten in seinem Inneren etwas zu schwingen begann, und so lächerlich es klang, ihm war tatsächlich, als würde das Herz in seiner Brust zu schreien beginnen. Für einige Sekunden verwirrte ihn die Empfindung, dann flüsterte er erneut: „Mein Sohn … komm zu deinem Vater. Wir … sollten uns wenigstens einmal kennen lernen …“
Die Wasserschüssel in seinen Händen vibrierte. Wasser lief über den Rand. Er spürte eine Kälte, aber es war kein Luftzug, sondern kam von der Schüssel her, als würde das Wasser darin von Zimmertemperatur bis auf den Gefrierpunkt absinken. Einige Minuten lang konnte er nichts sagen und nichts tun, fühlte nur, wie sich allmählich etwas veränderte.
„Er ist schon da“, verkündete Helga. „Er hat gleich hinter der Tür auf deinen Ruf gewartet. Du kannst die Augen jetzt vorsichtig öffnen. Aber erschrick nicht, wenn du etwas siehst oder spürst.“
Es war ein Schock für Hannes. Hatte sein Sohn wirklich gewartet ? Er stellte sich vor, was gewesen wäre, wenn er ihn nicht gerufen hätte. Wie lange hätte er gewartet? Eine Ewigkeit lang? Tief atmete er durch, und es war der schwierigste Atemzug seines Lebens – ein unbeschreibliches Grauen schien daran zu arbeiten, jeden Muskel in seinem Körper zu lähmen.
Das Wasser in der Schale kräuselte sich. Von der Mitte her breiteten sich in regelmäßigen Abständen Wellen aus, wurden stärker und ließen das Wasser immer häufiger überschwappen. Hatte er zuvor den Grund der Schale sehen können, so war das Wasser nun leicht trüb geworden, als hätte jemand ein paar Tropfen Milch hineingeschüttet.
Seine Hände zitterten. Sie zitterten so heftig, dass er fürchtete, die Schale fallen zu lassen. Krampfhaft umgriff er das Tongefäß, doch je kräftiger er sich daran klammerte, desto heftiger wurde das Zittern.
„Ruhig“, sagte Helga. „Dir geschieht nichts.“
Aber das
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