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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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bewandert in solchen Dingen. Ich dachte nur … ich meine … bei einer Séance spricht man mit den Toten, nicht wahr? Das hier …“ Er breitete die Arme aus, drehte sich linkisch ein wenig zur Seite. „Das sieht aus wie eine … ja, wie eine Beschwörung.“
    Die Blonde trat ganz nahe an ihn heran, tätschelte seine Schulter, legte den Kopf schräg wie eine laszive Bardame und formulierte langsam, als würde sie etwas Verführerisches sagen: „Wünschen Sie, dass wir die feinen Unterschiede zwischen“, sie klopfte mit dem Finger gegen seinen Hinterkopf, „Spiritismus und“, jetzt legte sie die Hand auf seinen Bauch, „Necromantie ausdiskutieren, ehe wir beginnen?“
    „Nein, ich …“ Er wich einen Schritt zurück, trat dabei auf eine Kreidelinie, zuckte zusammen und stellte sich wieder in die Mitte, wo am meisten Platz war.
    „Wir rufen keine Dämonen“, erklärte die Frau gelassen. „Unsere Kerzen sind weiß, nicht schwarz. Wir intonieren nicht die geheimen Namen Gottes, opfern keine Tiere und handeln nicht mit unseren Seelen.“ Sie sagte es mit einer Stimme und Mimik, die Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit aufkommen ließen. „Wir rufen nur jene, die nicht mehr unter uns sein können. Aber wir machen keine Spielchen zum Tee. Wir brauchen keine fünfzig Anläufe dazu. Wir rufen sie gleich so, dass sie auch erscheinen. Wir überzeugen sie davon, dass es gut für sie ist, zu uns zu kommen.“
    Wir zwingen sie , dachte der Mann. Das ist es doch, was sie ausdrücken will. Ihn schauderte, aber er hielt seine Einwände zurück. Er hatte lange gesucht, um diese Frauen zu finden, und eine Menge Geld investiert. Wegen ein paar Äußerlichkeiten würde er die Sache jetzt nicht abblasen. Außerdem glaubte er, dass ihm nicht ewig Zeit blieb. Jeder Tag, der verging, entfernte ihn von seinem Ziel. Die Woche der Vorgespräche hatte schon viel zu lange gedauert.
    „Ich bin einverstanden“, wisperte er.
    „Setzen Sie sich. Da, wo Sie jetzt stehen. In die Mitte des Pentagramms.“
    Er gehorchte mit leichtem Zögern, hockte sich im Schneidersitz auf den Fußboden. Wenn er jetzt nach oben sah, kam ihm das Zimmer größer vor. Zwischen den Kreidestrichen hatte er genügend Platz. Sie verliefen so, dass er sie berühren konnte, wenn er die Arme zu den Seiten hin ausstreckte.
    „Sie können den Mantel ausziehen, wenn Sie möchten“, sagte die Frau.
    „Nein, danke. Es ist … mir ist ein wenig kalt.“
    „Dann behalten Sie ihn an. Es wird noch viel kälter werden“, erwiderte sie mit Genugtuung. „Sie werden den eisigen Hauch des Grabes körperlich spüren. Denn das Grab ist jetzt die Wohnung des Leibes, dessen Seele wir rufen.“
    Er holte Luft, dann sagte er leise: „Nein, das … stimmt nicht.“
    Ihre Augen weiteten sich, und selbst bei den schlechten Lichtverhältnissen fiel ihm auf, wie gelb und ungesund das Weiße darin aussah. Die braune Iris wirkte beinahe schwarz und schien mit der Pupille eins zu werden.
    „Mein … Kind ist in keinem Grab“, sagte er mit kratzender Stimme. „Es war eine Fehlgeburt, achte Schwangerschaftswoche. Es wurde nicht begraben.“
    „Tja, so etwas läuft als Sondermüll“, kommentierte die Frau. Er hätte ihr dafür an die Gurgel gehen können, aber er bewegte nur ein wenig die Schultern, wie um eine Verspannung zu lösen. Sie hatte recht, und sie konnte nichts dafür, dass es so war. Das Recht der Eltern auf Bestattung ihrer fehlgeborenen Kinder war nicht gesetzlich verankert, und die Kliniken tendierten dazu, die sterblichen Überreste dieser Kinder wortlos einzuziehen und wie Abfall zu behandeln. Das galt in Deutschland wie auch in Japan, wo das Kind gezeugt worden und gestorben war.
    „Dann wissen Sie auch nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist“, fuhr die Blonde fort.
    „Das ist richtig“, antwortete er. „Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es ein Junge geworden wäre.“
    „Sagen Sie nicht ‚geworden wäre’“, korrigierte sie streng. „Es ist . In der anderen Welt ist es.“ Dann meinte sie nachdenklich: „Ein Junge also … Vielleicht haben Sie es tatsächlich gespürt. Oder Sie bilden es sich ein, weil Sie sich einen Jungen gewünscht haben.“
    Darauf erwiderte er nichts. Er beobachtete, wie die Frauen seltsame Metallkonstruktionen aufsetzten, die ein wenig wie Helme wirkten, ein wenig wie Schandmasken oder andere Folterinstrumente. Ein Bügel führte unter dem Kinn vorbei. Nachdem sie die Objekte angelegt hatten, vermochten sie ihre

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