Falkengrund Nr. 30
es nicht tun dürfen“, wisperte er im Selbstgespräch. Niemand hörte ihn. Fünf Autos weiter saß ein älterer Mann hinter dem Lenkrad eines der abgestellten Fahrzeuge und zupfte sich die Nasenhaare aus, vom Innenspiegel unterstützt. Ab und zu blickte er in Hannes’ Richtung, zeigte aber wenig Interesse.
Hannes konnte niemandem erzählen, was er erlebt hatte. Er würde es alleine mit sich herumtragen müssen, so wie er auch den Gegenstand auf ewig mit sich herumtragen würde.
Er zog ihn aus der Tasche und betrachtete ihn, wobei er dem Mann im Auto den Rücken zuwandte. Zehn Meter weiter führte eine belebte Fußgängerzone vorbei, doch niemand sah zu ihm herüber.
Das Objekt war ein durchsichtiger Kunststoffbehälter, zylinderförmig, nicht viel größer als manche Medikamentendöschen. In seinem Inneren schwamm ein vier Zentimeter großes Etwas von rosaroter Tönung in einer farblosen Flüssigkeit. Ein menschlicher Embryo. Der Kopf war zu erkennen, aber noch kein eindeutiges Gesicht, an den Gliedmaßen waren bereits Finger und Zehen entstanden, und ein Stück Nabelschnur trieb dick und unförmig herum wie ein einzelner Tentakel.
Den Leib dieses Kindes hatten sie gerettet.
Sicher war es ein Fehler gewesen, den Körper seines Sohnes zu der Séance mitzunehmen. Hannes hatte ihm damit zeigen wollen, wie wichtig er für ihn war. Dass er ihn stets bei sich tragen, niemals weggeben, begraben oder gar entsorgen würde. Er hatte nicht darüber nachgedacht, was es für die Seele des ungeborenen Kindes bedeuten musste, die Anwesenheit seines unfertigen Leibes zu spüren.
Hatte sein Sohn versucht, seinen Leib zurückzugewinnen, wieder in das Gewebe einzudringen, aus dem er entstanden war?
Der Embryo war leblos wie immer. Fast schwerelos schwebte der Körper in der Flüssigkeit. Nichts wies darauf hin, dass der Funke des Lebens in ihn zurückgekehrt war.
Und vielleicht war das gut so. Ihn schauderte bei der Vorstellung, das winzige Krümelchen Mensch könnte sich zu bewegen beginnen …
Rasch steckte er die Dose wieder in den Mantel, trat zwischen den Autos hervor und tauchte in den Strom der Passanten ein.
3
Gegenwart
Michael Löwes Gesicht war unnatürlich lang und von einer unirdischen Schönheit. Die Wangen waren eingefallen, die Nase lang und prägnant, und links und rechts von seinem schmalen, ernsten Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben, die beinahe wie mit dem Lineal gezogen wirkten. Seine blauen Augen waren geweitet, als sehe er alles, was er sah, zum ersten Mal. Auf seinem Kopf wuchsen blonde Haare und standen nach oben ab wie Gras.
„Herr Löwe“, begann der Beamte. „Ich bin Dirk Fachinger von der Kripo Freudenstadt und würde Ihnen gerne einige Fragen stellen.“ Ihm entging nicht, dass Werner Hotten voller Anspannung im Türrahmen stehen blieb. Sogar die Schweißspuren, die seine Finger auf dem Holz hinterließen, nahm er wahr.
Michael lächelte. „Fragen“, sagte er. „Sind Sie ein … Lehrer?“
„Wie ich eben schon sagte“, meinte Fachinger etwas befremdet, „bin ich Kriminalbeamter. Meine Fragen sind allerdings privater Natur. Können Sie mir sagen, wie lange Sie schon Student auf Falkengrund sind?“
Michael schien zu überlegen. Er saß auf seinem Bett, schien gerade nichts Bestimmtes getan zu haben, und zu seinen Füßen stand ein Karton mit Lebensmitteln. Er fischte eine Konservendose mit Pfirsichschnitzen heraus, setzte ungeschickt einen Dosenöffner an, schaffte es mit viel Mühe, die Hälfte des Deckels zu durchtrennen, drehte den Öffner dann um, tauchte ihn in die Dose und wuchtete den Deckel mit der Hebelwirkung noch etwas weiter auf. Schließlich legte er die Dose an den Mund, trank und aß gleichzeitig. Seltsamerweise verschüttete er fast nichts dabei.
„Meine Frage“, erinnerte ihn Fachinger. „Wie lange sind Sie schon hier?“
Michael wischte sich den Mund ab. „Ich weiß nicht“, sagte er. „Acht Wochen? Ungefähr?“
„Fast fünf Jahre“, murmelte Werner Hotten verschämt im Hintergrund.
„So lange?“, fragte Michael. Die Diskrepanz der Angaben schien ihm aufzufallen, ihn aber nicht tiefer zu beunruhigen.
„Wie alt sind Sie?“, lautete Fachingers nächste Frage.
„Und Sie?“, erkundigte sich Michael.
„Ich habe zuerst gefragt.“ Es war, als spreche man mit einem Kind.
„Acht Wochen.“
Fachinger bewahrte die Ruhe. „Für mich sehen Sie aber älter aus“, meinte er freundlich schmunzelnd. „Mit acht Wochen würden Sie noch an der
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