Falkengrund Nr. 30
Augen zu verlieren. Das riesige Gebäude war bis zum Bersten mit kleinen Zimmern und engen Fluren gefüllt, einem Labyrinth ähnlich. Durch die bisweilen offenstehenden Türen hatte er gesehen, dass viele der Räume leer standen. In den Korridoren hatte sich Unrat und Gerümpel angesammelt, alte Möbelstücke und Kartons voller Ordner. Die Dinge sahen nicht aus, als würde sie jemals freiwillig jemand mitnehmen. Töpfe mit eingegangenen Zimmerpflanzen bildeten Stolperfallen, Poster hingen in Fetzen an den Wänden, die meisten Zimmer trugen verstaubte Nummerntafeln. Firmen, die längst den Weg alles Irdischen gegangen waren, hatten sie als Büroräume genutzt.
Die weibliche Person, die ihn führte, schwieg, und auch der Mann selbst sprach kein Wort. Bei ihm war die Anspannung dafür verantwortlich. Die Frau vor ihm kannte er seit etwas weniger als einer Woche, und in dieser Zeit hatte er nur einige Minuten mit ihr gesprochen. Ihre Treffen waren kurz und flüchtig gewesen, und es war fraglich, ob sie überhaupt verstanden hatte, was er von ihr wollte, und umgekehrt. Eine Art Vereinbarung war zustande gekommen, Geld hatte den Besitzer gewechselt, ohne dass sie ausführlich über das gesprochen hatten, was kommen würde. Nur so viel wusste er: Gleich würde er vier Menschen gegenüberstehen, die er nie gesehen hatte, in einem Gebäude, aus dem er vermutlich aus eigener Kraft nicht einmal hinausfinden würde.
Früher war er ein vertrauensseliger Mensch gewesen, doch diese Eigenschaft hatte sich mit den Jahren in ihr Gegenteil verkehrt. Unangenehme Erfahrungen mit Ärzten und Scharlatanen hatten ihn verändert. Die Hoffnung, sein Problem auf natürlichem Wege zu lösen, hatte er inzwischen aufgegeben. Es musste andere Methoden geben. Und er war bereit, sie alle auszuprobieren.
Am Ende eines der Korridore wartete eine Frau auf sie.
Obwohl ihre faltige Haut ein Alter weit jenseits der Fünfzig entlarvte, trug sie ihre Haare hellblond gefärbt und in langen, weichen Wellen, wie ein junges Mädchen. Als er näher kam, fiel ihm die stechende Intensität ihres Blickes auf. Sie stand in merkwürdigem Kontrast zu der schlaff herabhängenden Unterlippe. Ihr Gesicht glänzte von Fettcreme, die man auch roch. Man konnte sagen, sie sah aus wie vom Leben verspeist und in halb verdauter Form wieder ausgespuckt.
„Guten Tag“, sagte er krächzend. Die Frau nickte wortlos und wies mit ihrer klauenartigen Hand neben sich. Eine von zahllosen gleich aussehenden Türen stand offen. Das Schildchen an der Wand trug die Nummer 346 und den Namen Fr. B. Mayer.
„Bevor ich hineingehe“, begann er, „muss ich noch etwas wissen. Gibt es irgendetwas, was ich auf keinen Fall sagen darf, eine Frage, die ich unter keinen Umständen stellen darf?“
Die Frau mit den langen blonden Haaren verzog den Mund zu einem Grinsen, überheblich, wie es schien. „Wenn Sie Kontakt mit der Seele bekommen, dann tun Sie eines nicht: Fragen Sie sie nicht, ob sie leben möchte.“ Jetzt fasste sie ihn unvermittelt an der Hüfte und schob ihn ins Zimmer. Er gab nach, obwohl es ihm unangenehm war, von der Fremden angefasst zu werden.
Im Raum herrschte schummrige Beleuchtung. Etwa ein Dutzend Kerzen brannten und enthüllten drei Gestalten, ebenfalls Frauen, die an der Wand standen. Das Zimmer war klein, vier auf vier Meter vielleicht. Das einzelne Fenster hatte man mit Tüchern verhängt. Auf den Fußboden war mit Kreide eine geometrische Figur gezeichnet worden, ein fünfzackiger Stern, ein Pentagramm. Möbel gab es keine, und die Wände waren kahl.
Der Mann zögerte, die Zeichnung zu betreten, doch dann tat er es doch, sorgsam darauf bedacht, die Kreidestriche nicht mit den Schuhen zu berühren. Ehe er sich versah, stand er in der Mitte des Sterns, die anderen um ihn herum. Fünf Frauen waren es – die drei, die im Zimmer gewartet hatten, diejenige, die ihn hergeführt hatte, und die Alte mit den blonden Haaren. Sie war offenbar die Leiterin dieses Zirkels.
„Ich … hatte mir das anders vorgestellt“, brachte er hervor. Seine Kehle wurde trocken. „Eine Séance … einen Tisch … Stühle … nicht ein Pentagramm auf dem Boden …“
„Es trifft nicht Ihren Geschmack?“, fragte die Blonde, und er wusste mit der Frage nichts anzufangen.
„Geschmack“, echote er. Seine Hände zuckten nervös. Seine Blicke tanzten umher, und mit der Rechten kramte er in der Tasche seines Trenchcoats. „Mit Geschmack hat es nichts zu tun. Ich bin nicht sehr …
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