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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Unterkiefer nur noch um wenige Millimeter zu bewegen. Es sah aus, als könne man ihre Schädel zerquetschen, wenn man nur irgendwo die richtige Schraube anzog.
    Eine nach der anderen nahmen sie auf dem Boden Platz. Ihre Positionen lagen an den fünf Spitzen des Sterns. Als vier von ihnen saßen, löschte die Blonde alle Kerzen bis auf fünf. Jetzt sah er, dass die Helme, die sie trugen, nichts anderes als Kerzenständer waren und die klammerartigen Vorrichtungen nur dazu dienten, das Ganze zu fixieren. Die Blonde stellte jeder der Frauen eine Kerze auf den Kopf, zuletzt sich selbst, und setzte sich ebenfalls. Neben ihr stand eine kleine Tonschüssel bereit, bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Diese reichte sie ihm. Er nahm sie entgegen und wollte sie auf dem Boden vor sich abstellen.
    „Nicht!“, warnte sie. „Behalten Sie sie in den Händen.“
    „Gut“, brummte er und legte seine Hände mit der Schale in den Schoß.
    Er drehte den Kopf. Wenn er sich ein wenig reckte, konnte er alle fünf Frauen sehen. Die Blonde saß direkt vor ihm. Sie hatte nicht einmal die Tür des Raumes geschlossen. Er kam sich vor wie auf dem Präsentierteller. Hatten sie keine Angst, dass jemand vorbeikam und sie störte? Sie schienen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein.
    Die Kerzenflammen flackerten, es war viel dunkler geworden, die Kreidestriche zeichneten sich stumpf ab, wirkten verschmiert, als wären sie mehrmals weggewischt, ausgebessert und nachgezogen worden. Einige der Kerzen standen schräg auf den Köpfen der Frauen, Wachs lief herab und tropfte auf die Kopfhaut der Trägerinnen. Die Gesichter waren schmerzverzerrt. Die Frauen waren schon älter, zwischen fünfzig und siebzig vielleicht, und in ihren Augen brannte ein Feuer der Faszination. Was brachte sie dazu, an dieser Sache teilzunehmen? Sicher nicht nur das Geld, das er bezahlt hatte. Sie suchten nach einem Kick, etwas, das ihnen im Herbst ihres Lebens noch einmal das Gefühl verschaffte, etwas Neues, Einschneidendes zu erfahren. Spiritistische Sitzungen reizten besonders reifere Damen, nicht nur im gespensterfreundlichen Großbritannien, auch hier, in Deutschland. Manche der Damen hatten bestimmt schon ihre Männer verloren und sie aus dem Totenreich herbeigerufen, um ihre kleinlichen Streitereien beizulegen – oder endlos fortzuführen.
    In dieser Gesellschaft fühlte er sich fehl am Platze. Er nahm nicht zum Zeitvertreib oder aus Neugier an der Séance teil. Ihm war es ernst damit. Bitter ernst.
    „Entspanne dich“, verlangte die Blonde. „Ich bin Helga. Das sind Brigitte, Isabella, Traude und Vicky. Wie ist dein Name?“
    „Hannes“, entgegnete er, obwohl er sicher war, dass er Isabella, die ihn hergeführt hatte, seinen Namen längst weitergegeben hatte. Vermutlich gehörte die offizielle Vorstellung zum Ritual. So wie es dazu gehörte, dass Helga ihn auf einmal duzte. Sie waren jetzt wohl so etwas wie Brüder und Schwestern.
    „Hannes, du möchtest heute jemanden rufen, der keinen Namen hat“, stellte sie mit ruhiger, feierlicher Stimme fest. „Das ist ungewöhnlich … schwierig vielleicht. Aber mit unserer gemeinsamen Anstrengung werden wir es schaffen. Es ist wichtig, Hannes, dass du ununterbrochen an die Person denkst, mit der du sprechen möchtest. Du darfst dich nicht ablenken lassen, aber du darfst dich auch nicht verkrampfen. Vielleicht trägst du ja etwas bei dir, das dich an diese Person erinnert?“
    „Ja, das tue ich. Es ist hier in meiner Manteltasche. Es ist …“
    „Halt! Du brauchst es nicht auszusprechen!“, fuhr Helga energisch dazwischen, und er zuckte zurück, als hätte er eine Ohrfeige erhalten. Das Wasser in der Schale schwappte ein wenig über, und er spürte, wie seine Hose am linken Schenkel feucht wurde. Im Vergleich zu dem heißen Wachs, das den Frauen durch die Haare rann, erschien ihm diese kleine Unannehmlichkeit erträglich. „Wir wollen nicht zu viel wissen“, erläuterte die Blonde. „Es könnte uns von unserer Aufgabe ablenken. Unsere Aufgabe, meine lieben Schwestern“, sie schenkte jeder der Frauen einen intensiven Blick, „ist es, die Stimme dieses Mannes zu verstärken und in eine Richtung zu leiten, in der sie unter normalen Umständen nicht zu hören ist. Wir schließen dazu die Augen. Auch du, Hannes, schließt nun die Augen!“
    Er gehorchte. Neben sich vernahm er Zähneknirschen. Eine der Frauen litt unter den Schmerzen. Kurz bevor er die Lider gesenkt hatte, hatte er noch sehen können, wie sie

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