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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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draußen. Den ganzen Tag. Ich hätte gehen können. Aber ich blieb.“
    Artur seufzte. „Das klingt nach einer interessanten Geschichte. Ich nehme an, es gibt keine Kneipe hier, oder eine Gaststätte, in die wir uns setzen können. Mir ist ein bisschen kalt, ehrlich gesagt.“
    „Sie können zu mir kommen.“
    „Das kann ich nicht annehmen.“
    „Ich kann Sie nicht zwingen. Aber es würde mir nichts ausmachen. Im Gegenteil. Es scheint mir unvermeidlich, einen Außenstehenden einzuweihen. Vielleicht werden die Dinge dadurch klarer.“
    Artur nahm seinen Koffer und ging langsam neben Henning her. Während sie einen Kilometer bis zu seinem Haus am Dorfrand zurücklegten, verriet Henning dem Reisenden den Grund für den zeitweiligen Exodus der Dorfleute.
    „Es geschahen Morde“, sagte er mit vor Aufregung zitternder Stimme. „Frauen aus den umliegenden Ortschaften verschwanden, und die Polizei fand ihre Leichen im Moor rund um Friedlichten.“
    Artur lauschte aufmerksam.
    „Die Polizisten waren jeden Tag im Dorf. Sie schnüffelten überall herum, fragten jeden aus. Und sie machten keinen Hehl daraus, dass sie den Mörder unter uns vermuteten. Ich glaube, ich stand ganz oben auf ihrer Liste – schließlich bin ich das, was man einen Einzelgänger nennt, einen Kauz. Ich habe keine Familie, keine Kinder, keinen Hof. Aber auch andere hatten sie im Visier.“ Er stieß einen langen Seufzer aus. „Das Dorf wurde nicht fertig damit. Jeder verdächtigte jeden, und mit jedem Mord wurde es schlimmer. Zuletzt konnten sich nicht einmal mehr diejenigen in die Augen sehen, die unter einem Dach miteinander wohnten. Dass man mich verdächtigte, war nicht schlimm, aber ich sage Ihnen: Als Kinder anfingen, ihre Eltern der Morde zu bezichtigen, und umgekehrt – das war scheußlich. Und plötzlich brach alles zusammen. Die meisten gingen weg, weil sie den Druck nicht mehr aushielten. Und kehrten erst Wochen später zurück, als die Polizei den Mörder gefasst hatte.“
    „Jemand aus dem Dorf?“
    Henning schüttelte den Kopf, dass seine halblangen Haare flatterten. „Ein Fremder, nicht einmal aus der Gegend. Er kam aus Brandenburg, ein Verrückter. Er übernachtete in verschiedenen Hotels im weiteren Umkreis. Er sagte den Beamten, dass ihm das Moor gefalle. Und die Frauen, die hier leben. Und dass es in diesem Moor immer Blutopfer gegeben hätte, in heidnischer Zeit, und dass es Deutschland nur deshalb so schlecht gehe, weil man mit den Opferungen aufgehört habe. Verstehen Sie? Er dachte, er könne die Konjunktur ankurbeln, indem er diese Frauen dem Moor übergab! So ein wahnsinniger Idiot! Begreifen Sie jetzt, warum Fremde in Friedlichten nicht willkommen sind? Das alles liegt keine drei Monate zurück. Wir hatten unseren Frieden, ehe er kam. Und nun …“
    Artur nickte stumm. Mit einer solchen Erklärung hatte er nicht gerechnet. Er war so fasziniert von dem Bericht, dass er nur am Rande mitbekam, wie der lange Henning mit ihm in eines der flachen Häuser ging, ihn an einen Tisch in einem kargen, fast leeren Wohnraum setzte, Feuer in einem Kamin entfachte und Tee vorbereitete.
    Was ihm gerade erzählt worden war, nahm sich so bizarr aus wie vieles, was er auf Falkengrund erlebt hatte. Er war ziemlich sicher, dass er nicht zufällig hier war. Ein Dorf, von dem er nie zuvor gehört hatte – und dann eine solche Geschichte!
    Als der Tee fertig war, verblüffte ihn sein Gastgeber von neuem. „Was Sie gehört haben, ist noch harmlos im Vergleich zu dem, was ich Ihnen jetzt sagen werde: Die Menschen, die im Dorf blieben, haben Schreckliches durchgemacht, denn sie haben etwas gesehen, was es nicht geben kann. Soweit ich es verstehe, hat es überhaupt nichts mit den Morden zu tun. Und doch – es kann ja kein Zufall sein …“
    „Gesehen? Sie waren auch hier, nicht wahr? Haben Sie es auch gesehen?“
    „Oh ja, das kann man wohl sagen.“
    „Und … was war es?“
    Henning ging an den Kamin, in dem die ersten Flammen an einigen Holzscheiten leckten, wie um den Geschmack zu testen. Lange sah er schweigend hinein.
    „Schatten“, meinte er dann tonlos. „Schatten.“

6
    Die Zeit der Gespenster ist Mitternacht. Doch in Friedlichten begann der Spuk am hellen Tag, genau zur Mittagsstunde.
    In den Häusern platzten die Türen auf, jene, die zuvor auf rätselhafte Weise verschlossen gewesen waren.
    Wie die Deckel von aufrecht stehenden Särgen öffneten sich die hölzernen Türen, krachten gegen die Wände oder stießen

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