Falkengrund Nr. 31
Gegenstände um, die im Weg standen. Die Gewalt, mit der sie aufgestoßen wurden, war unbeschreiblich. Die meisten Türen gingen dabei zu Bruch. Auch von soliden Brettern, wie Rolf Haste sie benutzt hatte, um das Loch zu verschließen, blieben nur Splitter übrig.
Die Maschinen in den Kammern begannen zu summen. Die Anzeigen flossen ineinander, bildeten kaleidoskopartige Muster, lebendige Grafiken, deren pulsierender Rhythmus an das Schlagen eines Herzens erinnerte. Die weißen Hüllen, die von den Bügeln herabhingen, bewegten sich. Etwas floss in sie hinein, füllte sie aus. Was eben noch eine schlaffe Membran gewesen war, spannte sich nun, erhielt Form und Individualität. Es war, als würde ein menschenförmiger Luftballon aufgeblasen. Die Gliedmaßen wurden rund, die Brustkörbe bildeten sich aus, und aus den formlosen Gesichtsmasken wurden ausgeprägte Gesichtszüge.
Aus jedem der weißen Haut-Dummys entstand ein anderer Mensch.
Die Hüllen hatten keine Öffnungen, und so blieben auch Münder, Augen und Haare nichts anderes als Schattierungen unter der halbtransparenten Haut. Die Maschinen gebaren Menschen in die geschlossenen Membranen hinein.
Der Vorgang dauerte nur wenige Minuten. Während der Metamorphose lag ein süßlicher Geruch in der Luft, der an den Gestank verwesender Leichen erinnerte. Die Leute, die – vom Lärm angelockt – Augenzeugen des Unheimlichen wurden, beobachteten die tastenden Bewegungen der Neugeborenen . Ihre Arme ruckten nach vorne, ihre Füße suchten nach dem Widerstand des Fußbodens, ihre Augen waren unter der Haut weit aufgerissen. Falls sie überhaupt etwas wahrnahmen, dann nur ein stumpfes, schales Abbild dieser Welt.
Rolf Haste gehörte zu denen, die es nicht in ihren Zimmern aushielten. Zusammen mit seiner Tochter Gret und einem ihrer Brüder war er zur Dachkammer geeilt. Schockiert bückte er sich nach einem der Holzstücke, während Gret und ihr Bruder das weiße Geschöpf anstarrten, das in der nun türlosen Kammer entstand.
„Was ist, wenn es sich befreit?“, gurgelte Gret voller Panik. „Was tut es mit uns?“
Niemand antwortete, doch ihr Bruder stellte sich vor die Türöffnung. Sie konnte sehen, wie seine Knie zitterten. In der Hand hielt er ein Brett, und er schwang es hin und her, wie um sich zu beruhigen.
Das Wesen reckte sich, bewegte die Schultern, als kämpfe es gegen Verspannungen. Es bildete weibliche Brüste aus, und auch der Rest des Körpers war zweifellos weiblich. Eine junge Frau. Lange flachsblonde Haare klebten wirr im Inneren der Haut. Das Wesen schaukelte ein wenig. Gret musste an einen Schmetterling denken, der die Puppenhülle sprengte. Doch der Mensch im Inneren dieser weißen Haut vermochte die Hülle nicht zu zerreißen. Etwas anderes geschah stattdessen. Die Stränge, die den Körper an einem Bügel gehalten hatte, rissen, und das Geschöpf fiel herab, zunächst auf alle Viere, dann richtete es sich auf.
Mit vorgestreckten Armen verließ es die Kammer. Grets Bruder wich ihm aus, schlug jedoch mit dem Brett zu, als es direkt neben ihm war. Das weiße Wesen geriet bei dem Hieb kaum aus dem Gleichgewicht. Die Wucht des Schlages riss dem Mann das Holz aus den schweißnassen Händen, und es fiel klappernd zu Boden.
Rolf deutete auf die spitzen Holzsplitter, über die das Geschöpf nun lief. Sie schienen weder der Membran noch dem darin befindlichen Körper etwas anhaben zu können. Zügig bewegte sich das Wesen auf die Treppe zu und stieg nach unten. Hatte es bei den ersten Stufen noch Probleme mit der Balance, wurden seine Bewegungen zusehends sicherer.
Die drei Menschen konnten nichts tun als ihm zu folgen. Es verließ das Haus, ging über den Hof in Richtung Ortsmitte davon. Es war, als wäre man gemeinsam in einem Albtraum gefangen.
„Hast du das Gesicht gesehen?“, raunte Rolf Haste.
„Ja“, schnaufte seine Tochter. „Furchtbar. Diese aufgerissenen Augen, der geöffnete Mund …“
„Das meinte ich nicht. Ich kenne diese Frau. Ihr Bild war in der Zeitung, damals. Sie gehört zu den jungen Frauen, die ermordet und im Moor abgeladen wurden.“
Gret hatte keine Gelegenheit, etwas darauf zu erwidern. Was sie als nächstes sahen, schnürte ihnen allen die Kehle zu. Das Geschöpf, dessen groteske, blasphemische Geburt sie beobachtet hatten, war nicht das einzige seiner Art. Drei weitere ähnliche Wesen traten in diesen Sekunden aus den benachbarten Häusern.
Männer und Frauen, allesamt gefangen in den weißen
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