Falkengrund Nr. 31
was hatte er schon zu befürchten? Schließlich trug er seinen Schutzgeist in sich.
4
Die Schweine quiekten.
Nein, sie schrien . Schrien beinahe wie Menschen in höchster Todesgefahr.
Karsten Granemeier polterte die Stufen aus dem ersten Stock hinab und begegnete seiner Frau, die unentschlossen in der Diele stand, die Hände noch triefend nass vom Abwaschen. Sie blieb stumm, während sie ihren Mann beobachtete. Er eilte aus dem Haus und humpelte durch den Hof zum Stall hinüber. Sein linkes Bein war steif, eine Kriegsverletzung, wie er manchmal in seinem trockenen Humor witzelte. Natürlich war er mit seinen dreiundvierzig Jahren zu jung, um in einem der Weltkriege gekämpft zu haben, und die Versteifung des Beines war auf eine komplizierte Sehnengeschichte zurückzuführen.
Es dauerte eine Ewigkeit, den fünfzig Meter breiten Hof zu durchqueren. Eine Ewigkeit für Karsten, eine Ewigkeit für seine hilflose Frau und gewiss eine Ewigkeit für die Schweine. Als er der Stalltür einen Stoß versetzte, der sie krachend auffliegen ließ, wurden die Schreie der Tiere noch eine Stufe lauter. Obwohl genügend Tageslicht durch die Fenster einfiel, drehte Karsten das Licht an. In der rechten hinteren Ecke des Stalls, wo sich Gerätschaften unordentlich auftürmten, sah er einen dünnen Schatten, der sich ruckartig zu bewegen schien. Es gelang ihm nicht, das Phänomen länger zu verfolgen, denn die schaurige Szenerie auf der anderen Seite des Stalls riss seine Blicke mit aller Gewalt an sich.
Überall war Blut. An den Wänden, auf dem Boden, an den Tieren.
Zuerst dachte er, mindestens die Hälfte seiner achtzig Schweine müssten verletzt sein. Die Luft roch ein bisschen wie immer, doch irgendwo war ein entscheidender Unterschied. Die Tiere rannten quiekend umher, stießen sich gegenseitig um, rutschen übereinander und schafften es beinahe, die Umzäunung umzudrücken.
„Ruhig“, krächzte Karsten. „Ruhig.“
Er griff nach einer Schaufel, die an der Wand hing. Wozu tat er das? Er starrte das lange Ding an. Ja, er tat es, um eine Waffe zu haben, um den Menschen, der das angerichtet hatte, nicht durch die Tür zu lassen. Der Schatten in der Ecke allerdings war bereits verschwunden. Und Karsten war nicht sicher, ob er wirklich ein Mensch gewesen war.
Der Landwirt stützte sich auf die Schaufel und musterte seine Schweine, die sich allmählich beruhigten. Ein Tier lag tot auf dem Boden. Sein der Länge nach aufgerissener Körper dampfte. Dass die meisten Schweine mit Blut beschmiert waren, bedeutete nicht, dass sie sich verletzt hatten. Sie alle waren an der sterbenden Kreatur entlanggestreift und hatten sich mit ihrem Blut besudelt.
„Donnerwetter“, knirschte Karsten zwischen seinen großen, kräftigen Zähnen hervor. Wer hatte das angerichtet? Und zu welchem Zweck?
Mühsam hob er sein steifes Bein über die Umrandung und näherte sich dem Kadaver. Die inneren Organe lagen offen da. Karsten war kein Mensch, der Probleme mit einem solchen Anblick hatte. Zwar schlachtete er nicht selbst, doch wie so ein Schwein von innen aussah, das wusste er schon. Er sah das Herz, das aufgehört hatte zu schlagen, die Leber, die Nieren. Es war ihm, als sei der Unterleib des Tiers besonders übel zugerichtet. Ohne lange zu zögern, griff er mit der Hand hinein, zog einen Hautlappen zur Seite und tastete.
Das Schwein hatte keine Blase mehr. Sie war entfernt worden.
Hatte ein Perverser das Tier getötet? Was fing jemand mit einer Schweinsblase an?
Als sich Karsten der Tür zuwandte, zeichnete sich dort im Gegenlicht eine hagere, hochgewachsene Gestalt ab. Karsten griff nach der Schaufel, ließ sie jedoch sofort wieder sinken. „Henning“, hauchte er.
Der lange Henning, der zwei Semester Tiermedizin studiert hatte, trat in den Stall. „Was ist bei dir los?“, erkundigte er sich knapp. Henning war Karstens Nachbar. Er musste etwas gehört haben.
Karsten ärgerte sich, dass die Bohnenstange seinen Hof und seinen Stall betrat, ohne um Erlaubnis zu fragen. Sicher, früher waren sie einmal gute Freunde gewesen, aber nun, nach allem, was geschehen war … Henning war im Dorf geblieben, Karsten war gegangen. Seit seiner Rückkehr hatten sie kein Wort mehr miteinander gesprochen.
„Was hast du gesehen?“, wollte Henning wissen.
„Jemand hat eins von meinen Schweinen geschlachtet.“
„Ja. Aber was hast du gesehen ?“
„Was schon!“, entgegnete Karsten ärgerlich. „Ein totes Schwein.“ Was bezweckte der Kerl
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