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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Keineswegs kehrte ihre gesamte Erinnerung damit zurück, es war nur dieser einzelne Name. Sie ahnte, dass er einen Ort bezeichnete, aber damit endete es schon. Das Licht ihrer Erinnerung war kurz aufgeblitzt, mehr nicht.
    „Komm“, forderte der Dunkle sie auf. „Häng dich an den Drachen. Wir fliegen.“

3
    Und wenn er „hängen“ sagte, dann meinte er es auch. Sitze gab es keine, nicht einmal Seile. Zwischen den V-förmigen Flügeln verlief ein schmaler Querbalken, und kaum hatten sie diesen ergriffen, ging es auch schon los: Das Fluggerät ruckte herum, startete, und während es Fahrt aufnahm, streifte der Gegenwind ihm die letzten Glas- und Holzsplitter ab. Sie flogen über den Platz, der nun voll von Menschen war. Die Leute flohen nicht weiter, sammelten sich um das Gebäude und gafften sie an, eine Horde Schaulustiger. Aus den Reihen der Menschen wurden vereinzelt Schüsse abgegeben, und der Passagierin jagten die pfeifenden Geschosse kalte Schauer über den Rücken, doch nach wenigen Sekunden der Gefahr hatten sie den Platz hinter sich gelassen.
    „Was geschieht mit mir, wenn ich den Halt verliere?“, erkundigte sie sich. Eine berechtigte Frage. Der Drachen flog nach einigen ruckartigen Manövern jetzt ruhig und gleichmäßig, doch der Blick in die Tiefe hatte nichts von seiner Bedrohlichkeit eingebüßt. Die Flughöhe betrug etwa zehn, fünfzehn Meter.
    „Du würdest es nicht überleben“, entgegnete das Wesen, das man „das Herz“ nannte. Der dunkle Herzschlag war noch immer zu hören. Die Frau dachte über den Satz nach, den er gesagt hatte, und fragte sich, was er damit meinte. Wäre Humor nicht so vollkommen unvereinbar mit seiner Ausstrahlung gewesen, hätte man die Bemerkung für einen Scherz halten können. Natürlich würde sie einen Sturz nicht überleben . Sie war ja bereits tot.
    Fasziniert betrachtete sie die Welt von oben. Die Mischung aus zyklopenhaft riesigen Gebäude, schmalen Gassen und weiten Plätzen, alles gleichförmig und grau in grau, setzte sich in alle Himmelsrichtungen fort, so weit das Auge reichte. Menschen waren kaum auszumachen. Vermutlich drängten sie sich alle in den Gebäuden, kabbelten sich um freie Plätze an den winzigen Schreibpulten und kritzelten wie besessen Notizbücher voll. Eine Gesellschaft von toten Stubenhockern.
    „Sind alle diese Gebäude Scriptorien?“, wollte sie wissen.
    „Natürlich“, lautete die Antwort. „Was sollten sie sonst sein?“
    „Aber warum? Wieso wollen alle Menschen nur schreiben?“
    „Weil Schrift an diesem Ort sehr wichtig ist. Nur durch Schrift ist Veränderung möglich.“
    „Veränderung?“ Sie konnte nicht glauben, dass sie dieses Gespräch führten, während sie sich mit den Händen an einem Etwas festhielten, das eigentlich nicht fliegen durfte, weil es keine echten Tragflächen hatte und keinen Antrieb. „Was verändern sie?“
    „Dinge ohne Belang. Ihre Kleider zum Beispiel. Um die großen Dinge zu beeinflussen, fehlt ihnen die Kraft. Und der Mut. Und die richtigen Zeichen.“
    „Ich verstehe nicht. Diese Leute können ihre Kleidung verändern, indem sie die gewünschte Veränderung einfach niederschreiben?“
    „Im Grunde ja, das ist das Gesetz dieser Welt, aber es ist nicht einfach. Dazu sind mächtige Schriften nötig, Schriften, die die meisten nicht beherrschen. Alte Schriften. Manche Schriften sind komplett machtlos … in ihren Händen.“
    „Ich habe ein Schriftstück gesehen, das in – ja, jetzt fällt mir der Name ein – in Devanagari verfasst war. Ich konnte es lesen, teilweise.“
    „Devanagari, die sogenannte Schrift aus der Stadt der Götter … Im Grunde nicht sehr göttlich. Stärker als die lateinische, aber insgesamt eine der schwächeren Schriften.“
    „Und chinesische Schriftzeichen?“ Sie musste an das Insekt denken, das auf dem Platz herumgekrabbelt war.
    „Relativ mächtig, aber ausgesprochen launisch. Diese Zeichen entarten sehr schnell.“
    „Zu Ungeziefer?“
    „Auch. Nicht nur.“
    „Warum hat Sprache hier diese magische Kraft?“
    „Nicht Sprache, sondern Schrift. Das zu verwechseln, ist ein Verbrechen. Sprache und Schrift sind etwas grundlegend Unterschiedliches. Sprache wurde für den Augenblick erfunden, um zu kommunizieren, Schrift hat man geschaffen, um etwas zu fixieren. Schrift hält die Zeit an. Sprache ist trivial und unbedeutend. Sie dient dazu, Gespräche zu führen, von denen man sich die meisten komplett sparen könnte. Schrift ist Macht. Sie konserviert

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