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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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hier war nicht echt, sie war schal und leer, eine virtuelle Realität, die man nicht mit den Händen aus Erde, Stein und Holz schuf, sondern die man schrieb wie ein Programm oder ein Buch. Diese Welt hatte keinen Wert, war ein schwacher Trost für den Verlust des wahren Lebens. Sie wünschte sich, im Nichts verloschen, im Nirwana verpufft zu sein, anstatt in dieser kranken Nichts-Halbes-und-nichts-Ganzes-Welt wiedergeboren zu werden.
    Schluchzend kauerte sie in einer Ecke eines riesigen Raumes, der sich langsam mit Dingen füllte, die ihr nichts bedeuteten. An den Wänden wuchsen Schränke in die Höhe, und sie hatte keine Gegenstände, um sie zu füllen, außer er schrieb ihr welche. Obwohl sie weinte, fühlte sie keine Tränen. Sie funktionierte nicht mehr, war eine weggeworfene Puppe, ein kaputtes Spielzeug. Ja, dies war das Inferno, schlimmer als blaue Flammen eines schaffen konnten, denn es war die Hölle der Sinnlosigkeit. Sie hatte in diesem Lorenz von Adlerbrunn einen Verbündeten gesehen, doch dies war vermutlich eine böse Täuschung. Wenn der Herr dieser Welt sich freundlich gab, dann nur, um sie zu verhöhnen mit seiner aus Worten geschaffenen Realität. Solange sie ihm gegenüberstand, fühlte sie eine merkwürdige Sympathie – war sie alleine, spürte sie die grausame Leere seiner Schöpfung.
    Was würde geschehen, wenn sie dieses Gebäude, diesen Palast (oder was auch immer es darstellen sollte), zu verlassen versuchte? Würden die gummiartigen Wesen sie festhalten? Eigentlich brauchten sie es nicht. Wohin sie sich auch wandte, diese Hölle war überall. Vielleicht würde sie über kurz oder lang in den Scriptorien enden, würde mit den anderen verlorenen Seelen an den Schreibpulten ringen, alles nur, um ein paar Buchstaben zu Papier zu bringen und sich ein schöneres Kleid zu erschaffen. Kannte irgendeiner dieser Unglücklichen seinen eigenen Namen? Den Namen seiner Mutter, seines Vaters?
    Wenn sie lief, einfach weglief, würde sie dann irgendwann an eine unüberwindliche Wand gelangen? Oder war diese Welt unendlich?
    Riesige Sessel und Sofas entstanden aus dem Nichts. Sie konnte sich nicht vorstellen, sich je auf eines dieser Möbelstücke davon zu setzen.
    Der Raum hatte Fenster – sie hatte sich Fenster gewünscht, und jetzt bereute sie ihren Wunsch, denn das Glas hatte der Herr dieser Welt noch nicht geschrieben, und nun empfing sie unangenehme Besucher, Ungeziefer, kleine Monster, wie sie vor dem Scriptorium eines gesehen hatte, jettschwarze, ölig glänzende Bestien, Skorpionen oder Vogelspinnen ähnlich, in Form chinesischer Schriftzeichen. Wer sich jemals vor sechs- oder achtbeinigen Krabbeltieren geekelt hatte, der sollte erst einmal einen Blick auf diese possierlichen Tierchen werfen: bis zu zwanzig unregelmäßig lange, unregelmäßig angeordnete Gliedmaßen, eine improvisierte, kranke Art der Fortbewegung und Beißwerkzeuge, die manchmal länger waren als ihre Beine (welche man ohnehin nicht eindeutig von Stacheln, Klauen und Schwänzen unterscheiden konnte – waren sie alles in einem?). Die Kreaturen gaben gutturale, singende Töne vor sich, erstaunlich menschlich. Vermutlich versuchten sie den Laut wiederzugeben, den sie repräsentiert hatten, als sie noch Tinte auf Papier gewesen waren.
    Die Frau schlug mit allem nach ihnen, was in Reichweite lag. Manche ihrer spontan gefundenen Waffen waren noch nicht fertig und bewegten sich, verwandelten sich, während sie damit zuschlug. Das Tote lebte, hier, wo die Lebenden tot waren – eine Art von Logik stand dahinter. Eine Symmetrie. Ihr wurde zum ersten Mal bewusst, dass Logik etwas Hässliches, Ekelhaftes sein konnte. Zu Ende gedachte Gedanken waren Gedanken, die man nicht rechtzeitig aufgegeben hatte. Etwas zu Ende zu denken, hieß, es ins Extrem zu führen, auf die Spitze zu treiben, Mutationen zu erzwingen. Entartungen wie diese.
    Der Himmel war ein Gedanke, den man rechtzeitig losgelassen hatte. Die Hölle, das war eine gnadenlos zu Ende gedachte Wirklichkeit.
    „Fensterscheiben“, schrie sie. „Gib mir wenigstens Fensterscheiben!“
    Die Schriftzeichen-Ungeheuer waren nicht ihre einzigen ungebetenen Besucher. Von Zeit zu Zeit sahen die Dienerkreaturen nach ihr. Aus der Ferne war ihre Knetfiguren ähnliche Beschaffenheit zu ertragen, sah kurios und beinahe witzig aus, doch aus der Nähe weckten sie nichts als Ekel und Abscheu in ihr. Man konnte nicht sagen, ob die eigene Neugier sie zu ihr trieb, oder ob sie auf den Befehl des Herrn

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