Falkengrund Nr. 33
manchmal sogar unter den Armen. Hunderte, vielleicht tausende kleiner Pulte waren dicht umschwärmt von Leuten, die offenbar darauf brannten, etwas niederzuschreiben. Und dabei herrschte keineswegs Einigkeit und Harmonie. Überall wurde gestritten, gedrängt, wurden die Ellbogen ausgeklappt, und einige Streitigkeiten eskalierten und endeten in Rangeleien. Gleich neben ihr wurde ein Mann umgestoßen, und eine Flut von Papier ergoss sich auf den Fußboden und über eine Frau, die dort saß. Viele der Leute hatten sich auf dem Boden niedergelassen, was die hastenden Passanten zum Schimpfen und Fluchen brachte. Wieder andere versuchten, die Wände als Schreibunterlage zu benutzen. Über allem lag eine chaotische Hektik, in der es keinerlei System zu geben schien. Einige der Menschen trugen die weiße Toga, die meisten steckten in anderen Kleidungsstücken aus allen denkbaren Epochen und Kulturkreisen. Manche davon hatte sie nirgendwo je gesehen, und es stand zu vermuten, dass sie nur hier existierten. Die Menschen entstammten allen Rassen, die sie kannte. Der Anteil an Ostasiaten, Schwarzafrikanern und indisch aussehenden Menschen war groß, und die Geschlechterverteilung musste annähernd bei fünfzig zu fünfzig liegen.
Als sie in dieses wirbelnde Gedränge eintauchte, vergaß sie für kurze Zeit das Geschrei über den Angriff auf das Gebäude. Nur der Name „Scriptorium“ blieb in ihrem Gedächtnis präsent. Wenn sie ihr Latein nicht im Stich ließ, hatte man so die Schreibstuben in den Klöstern genannt, in denen müßige Mönche Bücher kopierten, säuberlich und von Hand. Der Begriff passte und passte auch wieder nicht zu diesem anarchischen Durcheinander. Breite, steinerne Treppenfluchten führten in die höheren Stockwerke, aber auch seltsame knarzende Paternoster, die sehr unregelmäßig und ruckelnd liefen und nichtsdestotrotz regen Zulauf verzeichneten – die offenen Kabinen quollen über von Menschen, sodass die Apparatur ständig klemmte und steckenblieb. Die Paternoster waren Quellen von Schreien und Klagen, kleine Höllen innerhalb dieser großen Hölle.
Die gewaltigen Treppenhäuser waren nicht leer, sondern ebenso dicht bevölkert wie die Hallen. Da sich die Stufen hervorragend als Schreibunterlagen für diejenigen eigneten, die keinen Platz an einem Pult ergattert hatten, musste man vorsichtig zwischen den schreibenden Menschen hindurchstaksen. Sie versuchte zu erkennen, was die Menschen schrieben, doch die meisten verwendeten fremde Schriftzeichen, chinesische oder andere asiatische Schriften, die sich nicht lesen konnte, oder hatten zumindest eine schreckliche Handschrift.
Moment! Ihr Blick fiel auf eine sauber beschriebene Seite, die offenbar jemand verloren hatte (überall flogen herrenlose Blätter herum). Sie hob sie auf und studierte sie. Obwohl der Text nicht in lateinischen Buchstaben verfasst war, konnte sie ihn dennoch lesen, allerdings nicht flüssig. Es handelte sich um eine indische Schrift. Ihr lag auf der Zunge, wie die Schrift hieß, und an einem ruhigeren Ort wäre es ihr bestimmt eingefallen.
Erregung ergriff sie. Was sie da in der Hand hielt, war der erste Anhaltspunkt zu ihrer Identität! Der Inhalt des Textes erwies sich als weniger aufregend: Es ging um die Beschaffenheit eines Pflanzenbeets, darum, welche Blumen in welchen Mustern angeordnet waren. Einige der verwendeten Begriffe kannte sie nicht. Offenbar sprach sie diese Sprache nicht perfekt. Sie rollte das Blatt zusammen und schloss fest ihre Finger darum. Es war ein Schatz für sie, oder ein Schlüssel. Ins richtige Schloss gesteckt würde er ihr unter Umständen die wichtigste aller Türen öffnen: die zu ihrer Person.
Draußen erklang lautes Knallen, mehrmals. Dort schien geschossen zu werden. Kurz darauf folgte in dem Stockwerk über ihr ein gewaltiges Krachen, ein Bersten von Holz und Splittern von Glas. Eines der riesigen Fenster, die sie von außen gesehen hatte, musste zerbrochen sein. Vielleicht durch einen Schuss?
Das Gerede über einen Angriff fiel ihr wieder ein. Wie hatte man den Angreifer genannt? Das Herz? Die Menschen auf der Treppe sprangen auf und stürmten nach unten. Ein Wirbel aus verlorenen Blättern erhob sich über ihnen. Glücklicherweise stand sie gleich neben dem Geländer und konnte sich dort festhalten, sonst wäre sie von dem Strom des menschlichen Schwarms mitgespült worden. Auch so bekam sie noch genügend Stöße und Tritte ab. Sie spürte dabei Schmerzen, aber sie verschwanden
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