Falkengrund Nr. 33
das Wertvolle.“
Noch während er sprach, schweiften ihre Gedanken ab. Etwas abgrundtief Dunkles öffnete sich in ihrem Gedächtnis, ein Tunnel ohne Boden. Bisher hatte sie nur die Plus-Seite der Situation wahrgenommen, die neue Umgebung, hatte die unbekannte Welt erkunden und Zusammenhänge begreifen wollen. Dass sie weiterexistierte, frei war, agieren konnte, denken konnte, das hatte sie berauscht. Doch die Minus-Seite war dadurch nicht aufgehoben, nur verdrängt, und jetzt eroberte sie sich ihren Platz zurück, unaufgefordert, gnadenlos und brutal. Du bist tot , lautete die Botschaft, und das bedeutet: Du wirst niemals mehr deine Freunde sehen, niemals mehr die Orte aufsuchen, die du gemocht hast, niemals mehr tun, was du gerne getan hast. Hier ist hier, und was drüben war, ist für immer verloren, wahrscheinlich sogar aus deiner Erinnerung gelöscht.
Die Erkenntnis traf sie so heftig, dass sie ihren Griff lockerte. Sie fühlte, wie die Schwerkraft dieser seltsamen Welt an ihr zog. Welcher Fall war schmerzhafter, der Fall in den Abgrund ihrer dunklen Gedanken oder der zum Erdboden dieser Welt?
„Falkengrund“, wisperte sie, das einzige Wort, das sie mit herübergenommen hatte. Indem sie es festhielt, gewann sie die Kraft, auch den Querbalken des Fluggeräts zu umklammern.
„Was weißt du von Falkengrund?“, fragte der Mann.
Sie überlegte. „Nichts“, erwiderte sie dann.
„Du lügst“, entgegnete er scharf. Er konnte sich also irren, war nicht allwissend.
„Und du?“, fragte sie zurück. „Du scheinst mehr zu wissen als ich.“
Er lächelte mit herabgezogenen Mundwinkeln. „Wie sollte ich Falkengrund nicht kennen? Ich habe es bewohnt, bewohne es immer noch. Meine Vorfahren haben es erbaut.“
Sie hatte den Eindruck, dieser Eröffnung müsse etwas Ungeheuerliches innewohnen. Sobald der Funke dieser Worte das Dynamit ihrer Erinnerung traf, würden die Mauern des Vergessens in Stücke fliegen. Wumm!
Aber der Funke verglühte, erreichte sein Ziel nicht. Nichts geschah. Sie blieb unwissend, besaß den Namen, aber nicht seine Bedeutung, hatte den Schlüssel, aber nicht das Schloss.
„Mein Name ist Lorenz von Adlerbrunn“, erklärte er. „Ich bin der Herr dieser Welt und der Herr von Schloss Falkengrund.“ Seine Stimme klang dabei weniger stolz als vielmehr ernüchtert, desillusioniert.
Sie hörte die Worte, aber sie sagten ihr nichts. Er hätte ihr jeden anderen Namen nennen können. Es interessierte sie nicht, wie er hieß, wer er war. Es gab nur eine einzige Frage, die sie beschäftigte. „Wer bin ich?“, sprach sie sie aus.
Auf seine Antwort wartete sie lange und vergeblich, und während sie noch wartete, entdeckte sie auf ihrer rechten Seite in weiter Entfernung hohe, klobige Türme, eine Art Festung vielleicht. Die Türme ragten so hoch, dass sie den trüben Himmel zu erreichen schienen. „Was ist das?“, wollte sie wissen.
„Gefährliches Gebiet“, entgegnete er.
„Gefährlich? Für den Herr dieser Welt?“
„Für dich“, sagte er unwirsch.
„Kannst du dorthin fliegen? Ich möchte es aus der Nähe sehen.“
„Nein“, erwiderte er nur.
4
Der Herr dieser Welt. Drüben in der anderen Welt war das ein Begriff gewesen, mit dem manche gläubige Christen den Teufel umschrieben. Und dieses finstere, magische Wesen hatte ohne Frage etwas Satanisches an sich. Doch „diese Welt“ war jene Welt, und das Jenseits war jetzt ihr Diesseits, und überhaupt: Sie fühlte sich in seiner Gegenwart nicht unwohl. Er wirkte unheimlich, keine Frage, doch „böse“, das war etwas elementar anderes, zumindest für sie. Bei „böse“ dachte sie an wahnsinnige Generäle und sadistische Nazi-Ärzte.
Den Ort, an den er sie brachte, hätte sie niemandem beschreiben können. Aus der Luft schien es, als überflögen sie eine Ansammlung knorriger alter Baumkadaver, ineinander gewundene, graubraune Pflanzen, vor Äonen von Jahren auf natürliche Weise gewachsen. Als sie sich ihnen näherten, wurden Strukturen erkennbar, die auf menschliche Erbauer schließen ließen: wiederkehrende Formen, Fenster- und Türöffnungen. Wenn man sich vorstellte, dass Friedensreich Hundertwasser eines Abends etwas Blähendes gegessen und infolgedessen bizarre, farblose Albträume gehabt hatte, dann kam man der riesigen Konstruktion nahe. Unter den pflanzlichen Formen versteckten sich nackte Kästen aus Stein, den Häusern der Umgebung nicht unähnlich. Nichts deutete darauf hin, dass das Wesen, das sich Lorenz
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