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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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einem ausdrucksstarken Gesicht und einer scharfen Nase. Sein Mund wirkte wie von Verbitterung verzerrt. Seine Augen waren tiefe Löcher, die in eine andere Welt zu reichen schienen, und die Konturen seiner Gestalt zerflossen in lebendigen Wirbeln. Es sah aus, als tobe in ihm ein Sturm, der sich anschickte, ihn zu zerreißen, so stark, dass der Mann seinen Körper nur mit äußerster Willenskraft zusammenzuhalten vermochte.
    Er hätte einen eindrucksvollen Bösewicht in einem Fantasy-Film abgegeben, zweifellos. Doch dieser visuelle Aspekt war nur ein Teil von ihm, und vielleicht sogar der unbedeutendste. Eine Aura der Macht umgab ihn, die körperlich spürbar war, eine Art magnetisches Feld, das ihn umgab. Und in diesem Feld pulste etwas dumpf und dunkel, eine unendlich tiefe Basssaite, die von einem Riesen angeschlagen wurde, sehr langsam und unregelmäßig, wie ein zu dunkler, zu stoischer Herzschlag.
    Bmm …
    Bmm …
    Die Regale knarrten leise unter jedem Schlag, und hätten nicht Bücher, sondern beispielsweise Gläser oder Vasen darin gestanden, sie hätten geklirrt und wären vielleicht sogar zersprungen.
    Die Frau begriff, dass der Alte nicht übertrieben hatte. Er hatte auch keine Metapher bemüht. Dieses Wesen war tatsächlich das Herz dieser Welt, musste es sein, fühlte sich durch und durch so an.
    „Ich verlange eine Erklärung“, brachte sie hervor.
    Sein Mund verkrampfte sich zu einem Schmunzeln. Er sagte nichts.
    „Erkläre mir diese Welt! Erkläre mir die Bücher, die schreibenden Menschen, die lebendigen Schriftzeichen, alles.“
    Sein Schmunzeln vertiefte sich, aber die Tiefe tat ihm nicht gut, sie ließ das, was eben beinahe menschlich ausgesehen hatte, zu einem hässlichen, raubtierhaften Zähne-Fletschen degenerieren. Ohne ein Wort gesprochen zu haben, drehte er sich um und ging auf das Fluggerät zu, das dieses gewaltige Fenster komplett ausfüllte.
    „Halt!“, rief sie. „Ich habe dich etwas gefragt. Wenn du es vorziehst zu gehen, dann … dann nimm mich mit.“
    Er drehte den Kopf, nur ein wenig, und erwiderte: „Gib mir einen einzigen Grund, warum ich dich irgendwohin mitnehmen sollte. Einen einzigen.“
    „Den kann ich dir nennen!“ Sie spuckte es aus, und dann fiel ihr nichts mehr ein. Hilflos stand sie da, spürte die Wut über ihre eigene Ohnmacht in sich aufsteigen, und ballte die Hände zu Fäusten. Er war die Antwort, sie spürte es, die Antwort auf alle Fragen. Er konnte ihr ihren Tod erklären, das Jenseits und das Diesseits dazu, die Gesetze dieser Welt und ihre Rolle darin. Vermutlich konnte nur er es. Aber er war zu gewaltig, zu mächtig und sie zu belanglos, als dass ein Gespräch zustande kommen würde. Die Distanz zwischen ihnen war mindestens die zwischen einem Fürsten und einer Dienstmagd, vielleicht sogar die zwischen einem Gott und einem menschlichen Wurm. Der Angst nach zu urteilen, die die anderen Bewohner dieser Welt zur Flucht getrieben hatte, musste sie sich glücklich schätzen, von ihm nicht zertreten zu werden.
    Aber sie schätzte sich nicht glücklich. Sie wollte nicht intakt aus dieser Sache herauskommen wie die anderen – sie war nicht intakt und würde es nie sein! Sie suchte Aufklärung, Erleuchtung. Wenn sie die nicht bekommen konnte, dann wünschte sie sich stattdessen lieber Vernichtung, die komplette Auslöschung ihrer Seele, ihres Astralleibs oder was immer das war, womit sie durch diese Welt wanderte.
    Er hatte sein eigenartiges Fluggerät bereits erreicht und traf die Vorbereitungen zum Abflug. Die Schüsse begannen wieder, Kugeln pfiffen, doch er achtete nicht darauf. Es war zweifelhaft, ob sie ihm überhaupt etwas anhaben konnten.
    Die Frau fieberte noch immer über der Frage, wie sie seine Aufmerksamkeit ein zweites Mal gewinnen und diesmal behalten konnte. Einen Grund, gib mir einen Grund. Sie war so verzweifelt, dass sie keinen klaren Gedanken zu fassen vermochte. Vielleicht hätte ihr Leben ihr einen Anhaltspunkt gegeben, wenn sie sich dessen hätte entsinnen können, ihr Leben in … auf …
    Sie riss die Augen auf. Auf einmal war etwas da, emporgekommen aus der dunklen Leere. Ihr Verstand griff danach und hielt es fest.
    „Falkengrund!“, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. Nur dieses eine Wort.
    Der Dunkle wandte sich um.
    „Was hast du da gesagt?“ Seine Stimme klang ungläubig. Fassungslos. Voller Emotion und Verwirrung, die nicht zu ihm passte.
    „Fa-Falkengrund“, wiederholte sie, ergriffen von seiner Ergriffenheit.

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