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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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gleich wieder, als wären sie keine echten Schmerzen, sondern nur Erinnerungen daran, wie sich so etwas zu Lebzeiten angefühlt hatte. Der Wasserfall von Menschen ließ nicht nach – natürlich nicht, denn über ihr lagen noch viele Stockwerke, und es würde lange dauern, bis diese alle leergespült waren.
    Sie versuchte gegen den Strom anzukämpfen, und es gelang ihr, wenngleich sie nur mühsam vorankam, eine Stufe nach der anderen. Das Blatt, das sie unbedingt hatte behalten wollen, musste sie loslassen, um sich besser festhalten zu können. Als sie den nächsten Stock erreichte, war sie auf der Innenseite der rund zehn Meter breiten Treppe gefangen, keine Chance, sich einen Weg durch die Masse der anstürmenden Menschen zu bahnen. Aber sie musste durch, um das geborstene Fenster zu erreichen und zu sehen, was geschah. Die Gefahr, vor der alle wegliefen, schreckte sie nicht. Sie war eben erst gestorben, und das machte sie stark. Was immer diese fremdartige Welt in Aufruhr versetzte, für sie konnte es eine Chance sein.
    „Ich bin das Herz!“, schrie sie, einer Eingebung folgend. „Ich bin das Herz!“
    Die Menschen, die ihre Rufe hörten, waren irritiert und wichen von ihr zurück. Genau darauf hatte sie es angelegt! Immer wieder brüllte sie den gleichen Satz, und er fungierte als Werkzeug, um ihr eine Passage zu bahnen. Allerdings ließ seine Wirkung rasch nach, und die letzten Meter über war er zu einer stumpfen Waffe geworden. Sie kämpfte sich mit den Fäusten weiter und erschrak, als sie einen Jugendlichen ins Gesicht traf. „Entschuldigung“, keuchte sie und arbeitete sich aus dem Menschenstrom heraus. Atmete sie wirklich schwer, oder war das, was sie für Atem hielt, nur die Erinnerung daran? Schlug noch ein Herz in ihrer Brust?
    Nun war der Weg frei. Vereinzelt kamen ihr noch Menschen entgegen, doch keiner davon versuchte sie aufzuhalten, als sie sich gegen die allgemeine Fluchtrichtung in das sich leerende Stockwerk bewegte. Sie lief durch zwei Säle, in denen einige Männer und Frauen fieberhaft Schriften zusammenrafften wie Plünderer bei einer Katastrophe. Als sie den Weg zum nächsten Saal einschlug, trafen sie die Blicke eines uralten Mannes, die sie zu beschwören schienen: Geh nicht dorthin. Bleib, wo du bist.
    „Ich kann nicht anders“, stieß sie im Vorüberhasten hervor. „Ich muss es sehen.“
    „Das Herz“, antwortete der Alte. „Was du sehen wirst, ist das Herz des Todes. Der Motor dieser Welt. Bei jedem Schlag, das es tut, stirbt ein Mensch.“ Er sprach noch weiter, aber sie konnte ihn nicht mehr hören, denn sie erreichte den sich anschließenden Raum.
    Er unterschied sich von den anderen. Gewaltige Bücherregale säumten ihn, die drei Stockwerke in die Höhe zu reichen schienen. Das Fenster, der einzige Bereich, den die Regale freiließen, war tatsächlich geborsten, Glasscherben waren weit in den Raum hineingeschleudert worden und bedeckten den Fußboden wie ein schillerndes Mosaik. In dem zerstörten Fenster hing etwas, ein riesiges … Objekt, eine Art Fluggerät vielleicht, vorn spitz zulaufend und sich nach hinten wie zu zwei Flügeln verbreiternd, ein Drachen, ein Hängegleiter, aber mit plumpen, schweren Tragflächen, mit denen es nach den Regeln der Physik eigentlich nicht fliegen konnte. Ein Unfall war das jedenfalls nicht gewesen. Mit diesem Fluggerät hatte sich jemand gewaltsam Zugang verschafft, und sie war sicher, dass er genau das Fenster erwischt hatte, dass er treffen wollte.
    Aber wo war er? In diesem Raum sah sie niemanden. Hatten die Schüsse der Wachen ihn erledigt, und er war von seinem Fluggerät gestürzt, ehe dieses in das Fenster einschlug?
    Sie betrat den Saal, ging langsam darin herum. Als sie den Blick nach oben lenkte, nahm sie unter der Decke eine Bewegung wahr. Ein Schatten kreiste dort, riss Bücher aus den Regalen und ließ sie wieder fallen. Ein Band kam direkt vor ihr herunter, ein schwerer Wälzer, der beim Aufprall auf dem Fußboden aus dem Leim ging. Sie lief zu einer der Wände, drängte sich gegen das Regal und sah ängstlich nach oben. Der Schatten, der die Form eines Mannes hatte, aber zerfetzt und ausgefranst wirkte, glitt herab und erreichte lautlos den Boden. Er trug drei oder vier Bücher in den Händen und schien im Begriff zu sein, sie in seinen Gleiter zu laden.
    Dann musste ihm aufgefallen sein, dass er nicht alleine war. Er wandte sich um und kam einige Schritte auf die Frau zu. Er war groß und stattlich, dunkelhaarig, mit

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