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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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dieser Welt kamen. Ihre weichen, schlanken, fließenden Züge verrieten nicht, was in ihrem Inneren vorging. Sie hatte das Gefühl, dass es sich um Menschen handelte, die in irgendeiner Weise die Kontrolle über sich verloren hatten, irgendeiner Sache verfallen waren, die sie vergiftete und veränderte.
    Einer Droge. Einer Illusion. Einer fixen Idee.
    Sie scheuchte sie hinaus, weil sie ihren Anblick nicht ertragen konnte. Auf ihre Bitte, ihr wenigstens das Ungeziefer vom Hals zu halten, waren sie nicht eingegangen.
    Auch den jungen Mann, der den Raum wenig später betrat, wollte sie wegjagen. Er sah ausgesprochen menschlich aus, hatte flinke, blaue Augen, zerzaustes Haar und trug ein Kleidungsstück, das in ihre Zeit passte: eine zerschlissene Blue Jeans. Sein Oberkörper war unbekleidet und muskulös, als verrichte er viel körperliche Arbeit. Falls sein Körper sich auf dem Weg zu dem gummiartigen Zustand der anderen befand, stand er wohl noch ganz am Anfang, war dem unbekannten Einfluss noch nicht lange verfallen.
    „Folge mir“, sagte er unvermittelt. Die anderen hatten nicht mit ihr gesprochen. „Du musst fliehen. Schnell, ehe jemand kommt!“
    „Was?“ Obwohl sie eben noch an Flucht gedacht hatte, kam die Aufforderung vollkommen unerwartet. Sie hatte noch keinen Entschluss gefasst. Wollte sie überhaupt weg von hier? Hatte Lorenz von Adlerbrunn ihr nicht versprochen, das Geheimnis ihrer Identität gemeinsam mit ihr zu lösen? Und: Würde er es überhaupt zulassen, dass sie sich einfach aus dem Staub machte, während er ihr ein Zuhause schuf? War er nicht der Herr dieser Welt? Würde es ihm nicht ein Leichtes sein, sie überall zu finden? Und zu bestrafen?
    Der junge Mann packte ihre Hand.
    „Nein!“ Sie versuchte sich ihm zu entwinden, doch sein Griff war wie aus Stahl. Trotzdem setzte sie sich weiter zu Wehr. Gewalt war entschieden der falsche Weg, um sie zu überreden, und das wollte sie ihm zeigen. Lorenz war sie freiwillig gefolgt, und ganz gleich, welche Gedanken ihr in den letzten Minuten auch durch den Kopf gegangen sein mochten – sie ließ sich nicht von einem Unbekannten dazu zwingen, diesen Ort zu verlassen.
    Der Mann schien überrascht von der Vehemenz ihres Widerstands und ließ sie los. Aber er gab nicht auf. Seine Augen funkelten, als ihm einzufallen schien, dass er noch eine Überraschung im Ärmel hatte.
    „Ich bringe eine Botschaft für dich“, begann er. „Dein Name ist Sanjay, Sanjay Munda. Was ist? Kommst du jetzt mit?“

6
    Sanjay Munda.
    Mit ihrem Namen kamen die Erinnerungen zurück, alle zusammen, in vollkommener Klarheit und binnen eines einzigen Augenblicks. Nichts blieb im Dunkeln, nichts verwehrte sich ihrem Zugriff.
    Am deutlichsten strahlte das Schloss Falkengrund, die Schule Falkengrund. Überirdisch hell leuchtete sie, aus ihrem Inneren heraus illuminiert, und die Schüler und Dozenten flanierten durch ihre Flure wie Götter. Sie erkannte sie alle, sogar die flüchtige Dorothea, erinnerte sich an ihre Stimmen, ihre Körpersprache und ihre kleinen Ticks, sah sich sogar selbst wie im Spiegel, wusste, dass sie schön und jung war, dass sie einen wunderbaren Freund hatte und ihre Zukunft vor sich, diesen ganzen riesigen Raum voller potenzieller Erlebnisse, die durch ihren Tod unmöglich gemacht wurden. Sie wusste, wie sie gestorben war, unvorbereitet, in der Asservatenkammer der Kripo Karlsruhe, auf einem Rollstuhl, den plötzlich Strom durchfloss, eine letale Dosis davon. Es war ein rascher, aber schmerzhafter Tod gewesen, eine innere Hitze, als würde ihre gesamte Lebensenergie, die noch für sechzig weitere Jahre hätte reichen müssen, in einem einzigen Augenblick verkocht.
    Das war sie, Sanjay. Vergangenheit.
    Die Erinnerung war ein riesiges Geschenk, aber eines, auf das sich einzulassen schmerzte, mehr als sie verkraften konnte. Das Glücksgefühl, das sie durchströmte, als sie sich wiederfand und wiedererkannte, schmeckte so bitter wie Galle. Sie hatte ihr Gesicht zurückgekauft, aber der Preis dafür waren die Erinnerungen an einen unfairen, verfrühten, endgültigen Tod. Einen Tod, dessen Hintergründe sie nicht verstand, der keinen Sinn ergab. Noch schlimmer war, dass sie sich an ihre Eltern erinnern konnte, an ihre deutsche Mutter und ihren indischen Vater. Und dass sie wusste, nicht annahm, sondern wusste , sie würden an der Nachricht zerbrechen.
    Ja, der Preis für das Wiedererlangen ihrer Identität war hoch. Unerträglich hoch.
    Als sie allmählich aus

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