Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
Leinen sang? Etwas schlug dumpf in den Gondelboden ein. Diesmal war er sicher, dass es eine Kugel war. Sie feuerten noch immer auf ihn und den Ballon. Angst schnürte ihm den Hals zu. Er wünschte, er wäre bewusstlos wie Sadik. Falls ein Unglück geschah und sie abstürzten, würde er nichts davon merken. Ein gnädiger Tod.
Jede Schussdetonation ließ ihn zusammenzucken, und er wartete darauf, dass die Hülle des Falken aufriss. Das herausströmende Gas würde das Loch in Windeseile meterweit auffetzen, und sobald das Gas entwichen war, würde der Ballon in sich zusammenfallen und mit der Gondel wie ein Stein in die Tiefe stürzen.
Doch nichts dergleichen geschah. Das Krachen der Gewehre wurde schnell leiser und der Ballon wölbte sich auch weiterhin in unversehrt praller Fülle über ihm. Sie mussten sich schon außer Reichweite ihrer Gewehre befinden!
Tobias wagte wieder einen Blick über den Gondelrand und erschrak im ersten Moment. Er hatte gewusst, dass der Ballon schnell an Höhe gewann, doch dass er so rasch aufstieg, hätte er nicht für möglich gehalten.
Falkenhof ließ sich nicht einmal mehr als Geviert erkennen. Auch die Feuer waren einzeln nicht mehr zu erkennen. Alles Licht um und in Falkenhof verschmolz zu einem hellen Fleck in der Dunkelheit.
Sie hatten es geschafft! Sie waren entkommen!
Doch Tobias fühlte keinen Triumph, als er in die Nacht zu jenem Ort hinunterblickte, der sechzehn Jahre lang sein Zuhause gewesen war – sein geliebtes Zuhause trotz aller Abenteuersehnsucht. Erleichterung und grimmige Genugtuung erfüllten ihn, weil Zeppenfeld nun mit leeren Händen dastand und vor ohnmächtiger Wut vermutlich einen Tobsuchtsanfall erlitt. Sein Plan war gescheitert.
Doch stärker als alles andere in ihm waren der Schmerz und die Angst um seinen Onkel. Jetzt wurde ihm bewusst, dass er ihm noch nicht einmal zugewinkt hatte. Nach dem Durchtrennen des Seils war alles so schnell gegangen, dass er daran überhaupt nicht mehr gedacht hatte. Was würde bloß aus ihm werden? Onkel Heinrich in einem kalten Kerker, in dem es nach Moder und Unrat stank? Diese
Vorstellung ließ ihn erschauern. Würde er ihn je wieder sehen?
Seine Augen füllten sich mit Tränen und er empfand es gar nicht als lächerlich, dass er in die Nacht hinaus winkte, obwohl der Ballon längst nicht mehr am Nachthimmel zu erkennen war, geschweige denn seine Gestalt. Und er bereute, dass er ihm nicht einmal gesagt hatte, wie viel er ihm bedeutete, welch wunderbare Kindheit und Jugend er ihm auf Falkenhof bereitet hatte und … ja, wie sehr er ihn liebte. Ja, gespürt hatte sein Onkel das gewiss. Nur ausgesprochen hatte er es nie, weil er geglaubt hatte, nicht die richtigen Worte zu finden. Jetzt tat es ihm Leid. Er würde vielleicht nie wieder die Möglichkeit haben, seinem Onkel all das zu sagen.
Lichter zu seiner Rechten. Mainz. Das breite Band des Rheins. Lautlos glitten Stadt und Fluss weit unter ihm hinweg. Der Wind trug sie nach Osten, während der Falke immer noch weiter aufstieg.
Tobias dachte plötzlich an Jana und ihre Wahrsagung. Die Karten hatten nicht gelogen. Es war fast alles so eingetroffen, wie sie es aus den Karten gelesen hatte. Er wusste jetzt, wer der umgekehrte Herrscher war, die negative Macht: Zeppenfeld! Die dunklen Machenschaften, Gefahren und schicksalhaften Veränderungen, von denen sie gesprochen hatte – all das hatte sich bewahrheitet.
»Es wird etwas passieren, das alles aus den Fugen reißen wird, dein ganzes bisheriges Leben. Eine Art Katastrophe.« Das waren ihre Worte gewesen, nachdem sie das Schicksalsrad, den umgekehrten Herrscher, den Turm und die Todeskarte in den elf Karten gefunden hatte.
Die Katastrophe war über Falkenhof hereingebrochen und hatte tatsächlich sein ganzes bisheriges Leben aus den Fugen gerissen. So hatte er sich seine Abenteuer bei Gott nicht erträumt!
Tobias fröstelte, doch es war nicht die nasskalte Nachtluft, die ihn erschauern ließ. Dunkle, konturlose Ängste bedrückten ihn, aber auch sehr konkrete. Wohin würde sie der Wind treiben? Wann sollte er die Reißleine ziehen und den Abstieg beginnen? Würde es ihnen gelingen, unerkannt nach Speyer oder nach Furtwipper zu gelangen?
Voller Sorge sah Tobias, wie der Ballon in die Wolken eintauchte und damit jede Orientierung verhinderte. Die Karten, die Onkel Heinrich ihm mitgegeben hatte, nutzten nun gar nichts mehr, um ihren Flug- und Fluchtweg zu verfolgen.
Er war jetzt froh, den Kompass eingesteckt zu haben,
Weitere Kostenlose Bücher