Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
wirklich befand. Denn wenn seine Augen auch den Raum und den Gang hinter Sadik sahen, so war sein ganzes Denken und Fühlen doch noch von dem packenden Geschehen gefangen, das tausende Meilen vom Falkenhof entfernt in der Wüste des Sudan stattfand. Ihm war, als hörte er das wilde Heulen des Sandsturmes, der peitschend über die Männer und Kamele hinwegfegte, die hinter einer Düne Schutz gesucht hatten.
Sadik lächelte. »Nein, ich glaube, ich habe sie dir noch nicht erzählt. Aber du solltest sie kennen«, sagte er und seine Stimme war sanft wie Seide.
Der Sudan, die Wüste und der Sandsturm – die lebendigen Bilder in seinem Kopf verloren an Kraft und verklangen zu dem schmerzlichen Gefühl, einen Blick erhascht zu haben, aber von der Erfüllung seiner Wünsche ausgesperrt worden zu sein.
»Sadik!«, sagte er nun überrascht und als müsste er sich seiner Gegenwart noch einmal vergewissern. Und dann, als er sich der Situation bewusst wurde, in der er ihn ertappt hatte, schoss ihm die Hitze der Verlegenheit ins Gesicht. »Ich … habe dich gar nicht kommen hören.«
»Aiwa … . ja, das war schwerlich zu übersehen«, erwiderte der Araber mit leichtem Spott. Er streckte die Hand aus: »Lässt du mich sehen, wohin du aus der Wirklichkeit geflüchtet bist?«
»Ich bin nicht geflüchtet!«, entgegnete Tobias angriffslustig, weil er sich darüber ärgerte, dass er sehr wohl ein Gefühl hatte, sich entschuldigen zu müssen. Doch er händigte ihm das Tagebuch aus. »Ich habe zufällig mal hineingeschaut. Das ist alles.«
»Und dir war einfach danach, ein bisschen in den Tagebüchern deines Vaters zu schmökern, ja?«
»Na und? Ist das vielleicht verboten? Er hat mir das erlaubt! Wann immer ich will!«, erklärte Tobias herausfordernd und reckte das Kinn vor.
»Habe ich etwas anderes behauptet?«, fragte Sadik ihn belustigt. »Willst du mich jetzt zum Duell fordern? Genügt es dir für heute nicht, Sihdi Fougot in den Staub gezwungen zu haben, junger Freund?«
Tobias schnitt eine grimmige Miene. »Ach, lass mich doch mit dem Franzosen in Ruhe, Sadik! Er war ein guter Fechtmeister. Aber was sagt es letztlich schon, dass ich ihn geschlagen habe? Es gibt bestimmt zehnmal bessere Fechter als ihn! Also was bedeutet es schon, dieser komische Sieg? Nicht die Bohne gegen das, was du und mein Vater erlebt habt!« Und er tippte mit den Fingern von unten gegen das Tagebuch, das Sadik aufgeschlagen in den Händen hielt.
Der Araber warf einen Blick auf die Eintragungen.
»Ah, die Sudan-Expedition von 1814!« Seine porzellanblauen Augen unter den schwarzen Brauen leuchteten auf. »Das war in der Tat ein bisschen gefährlicher als dein Gefecht auf dem Dachboden.«
»Mach dich nur über mich lustig!«
»Der Scherz in der Rede ist wie das Salz in der Speise, Tobias.«
»Dann verwendest du offenbar eine Menge Salz in deinen Speisen«, brummte Tobias scheinbar vorwurfsvoll, obwohl er sich Sadik in Wirklichkeit anders gar nicht vorstellen konnte – und auch nicht wollte. Er mochte ihn, so wie er war. Deshalb sagte er sofort darauf versöhnlich: »Erzähl mir lieber, wie ihr damals den Sandsturm überlebt habt und was dann passiert ist, wenn du mich schon nicht weiterlesen lässt.«
Sadik schloss den ledernen Band und stellte ihn an seinen Platz zurück. »Dein Onkel hat mich losgeschickt zu sehen, wo du steckst und ob du deinen Unterricht bei ihm vergessen hast.«
»Ist er in seinem Studierzimmer?«
»Nein, drüben in der neuen Werkstatt.«
»Ach, dann ist er bestimmt schon so sehr in seine neuen Experimente mit der Bilderkiste vertieft, dass er mich darüber längst vergessen hat«, erklärte Tobias, jedoch mehr zu seiner eigenen Beruhigung als in dem Versuch, Sadik davon überzeugen zu wollen.
Dieser machte auch ein sehr skeptisches Gesicht. »Das bezweifle ich. Sihdi Heinrich ist zwar ein Gelehrter, aber keiner, der nach dem Hahnenschrei schon vergisst, dass der Morgen angebrochen ist.«
»Egal. Erzähl, wie es war!«, drängte Tobias.
Sadik Talib ließ sich selten zweimal bitten, eine Geschichte zu erzählen. »Es war ein fürchterlicher Sturm, den Allah uns in seinem Zorn geschickt hatte. Wir fürchteten um unser Leben, ja, hielten das Ende der Welt für gekommen. Drei schrecklich lange Tage und drei noch schlimmere Nächte tobte er über und um uns. Und dann, am Morgen des vierten Tages, legte sich der Sturm so plötzlich, wie er uns überfallen hatte. Es war eine Stille um uns, in der man das Rieseln des
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