Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
Februarnachmittags.
Schnell wandte Tobias den Blick ab und schaute auf den Kopf des Zigeuners, der unter einer dicken rot-braunen Strickmütze verborgen war. Sie reichte ihm bis weit über die Ohren. Neben dem Kopf lag seine rechte Hand, an deren Gelenk etwas golden glitzerte.
Jakob Weinroth blickte zum Wagen hoch, der in einer seltsamen Stellung am Baum lehnte.
»Mächtig weiter Flug!«, bemerkte er. »Geradewegs in den Himmel, wie mir scheint. Ein kurzer und doch so weiter Weg.«
»Dreh ihn um, Sadik!«
Der Araber packte die Gestalt an der Schulter und drehte sie auf den Rücken. Das Erstaunen und die Betroffenheit war bei allen gleich groß.
»Heilige Maria Gottes! Es ist überhaupt kein Zigeuner!«, stieß Jakob Weinroth hervor. »Es ist eine Zigeunerin!« Ja, sie blickten in das schmale, blasse Gesicht eines Mädchens!
Sie lebt, Allah sei Dank
Das Mädchen schien in einem Bett struppig schwarzer Haare zu liegen, die einen scharfen Kontrast zu der weißen Schneedecke um sie herum bildeten. Um die Stirn lief eine schwarze Kordel, in die bunte Glasperlen eingeflochten waren und an der eine Goldmünze hing. Die Kordel war verrutscht, sodass die Münze nun ihr linkes Auge bedeckte.
Sadik beugte sich über sie, brachte sein Gesicht nahe an ihren Mund, während er gleichzeitig nach ihrem Handgelenk fasste und den Puls fühlte. »Sie atmet noch!«, stieß er hervor. »Allah sei Dank, sie lebt! Der tiefe Schnee hier hat ihren Aufprall wohl etwas gedämpft.«
»Nein!«, sagte Jakob ungläubig. »Nach diesem Sturz?«
»Himmel, wenn Sadik sagt, sie lebt, dann lebt sie!«, rief Heinrich Heller und seine Stimme bekam augenblicklich einen energischen Klang. »Die Blutung, Sadik! Wir müssen die Blutung an ihrem Bein zum Stillstand bringen. Jakob, lauf schnell hoch zur Kutsche! Hol meinen Spazierstock und die Peitsche!«
Verständnislos sah ihn der Stallknecht an. »Spazierstock und Peitsche? Ja, aber …«
»Frag nicht lange! Lauf schon!«, fiel ihm Heinrich Heller ungeduldig in die Rede, und Jakob beeilte sich, dass er die Böschung hochkam, um das Verlangte zu bringen.
Sadik hatte unterdessen zu seinem Messer gegriffen. Mit zwei raschen Schritten hatte er die Hose am rechten Bein weit aufgeschnitten, sodass die Wunde nun offen lag. Ein spitzer Knochen ragte aus dem Fleisch, aus dem das Blut pulsierte.
Tobias wandte sich schnell ab und schaute auf das Gesicht des Mädchens, während es in seinem Magen rumorte. Hitze stieg in ihm auf und der Schweiß brach ihm aus allen Poren, als stände er in der Mittagssonne eines heißen Sommertages. Er wünschte jetzt, er wäre bei der Kutsche geblieben.
Der Araber riss sich das Tuch vom Kopf, schnitt das Gewebe kurz mit dem Messer ein und packte dann mit beiden Händen zu, zerrte es auseinander, sodass er einen langen Streifen erhielt.
»Tobias!«, rief er scharf.
Tobias drehte sich zu ihm um, vermied es aber, dass sein Blick auf die Wunde und das abgewinkelte Bein fiel.
»Ja?«
»Ich brauche noch vier lange Streifen. Hilf mir«, forderte er ihn auf und drückte ihm Messer und Tuch in die Hand.
Tobias war nur zu dankbar, etwas tun zu können, und ging hastig daran, das lange Tuch in vier Streifen zu schneiden.
»Sie hat viel Blut verloren«, hörte er seinen Onkel sagen.
»Ihr Puls ist aber noch recht kräftig«, gab Sadik zur Antwort, während er den Oberschenkel abband. »Sie kann durchkommen – vielleicht. Aber erst muss ich das Bein notdürftig richten und schienen, sonst können wir sie nicht hochtragen.«
Jakob stolperte und rutschte die Böschung herunter. »Stock und Peitsche, Herr!«, rief er atemlos.
»Reichen sie zum Schienen, Sadik?«, fragte Heinrich Heller, und nun verstand Jakob, weshalb er ihn so eilig nach beidem geschickt hatte.
»Notdürftig. Aber ein Stück Brett dazu wäre noch besser. Helfen Sie mir! … Ja, ein bisschen anheben. Gut, das reicht.«
»Die Tücher, Sadik«, sagte Tobias und hielt sie ihm hin, den Blick starr auf das bleiche Gesicht des Mädchens gerichtet. Nur nicht an das denken, was Sadik im Augenblick mit dem Bein anstellte!
Er zwang seine Gedanken in andere Bahnen. Wie sie wohl hieß und wie alt sie sein mochte? Ihr Alter ließ sich schwer schätzen. Sechzehn? Vielleicht siebzehn? Aber was verstand er schon von Mädchen und jungen Frauen. Auf Falkenhof gab es nur Agnes und Lisette, und beide kannte er schon so lange, dass er nie über ihr Alter nachgedacht hatte. Aber diese Haut war glatt und rein, und sie
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