Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
gutes Wegstück schnurgerade vor ihnen lag, stockte ihm der Atem und vergessen waren Allah und die Sure.
Keine zwanzig Kutschenlängen vor ihm zog ein hoher, bunt bemalter Kastenwagen mit klobigen Rädern durch den Schnee. Es war ganz offensichtlich der Wohnwagen eines Zigeuners, denn nur fahrendes Volk wagte sich mit solch einem obskuren Gefährt auf die Straßen. Er hielt auf die schmale Brücke zu, die kurz vor Marienborn über ein kleines Gewässer führte, das noch unter einer festen Eisdecke lag. Sadik konnte vom Kastenwagen nur die Rückseite sehen, in die eine schmale Tür eingelassen war. Und auf dieser Rückfront prangte ein magisches Auge, das ihn aus der Tiefe eines mitternachtsblauen Sternenhimmels anzustarren schien. Unterhalb dieses Auges ragte aus einem angedeuteten Meer eine Hand, die einen Fächer von sieben geheimnisvollen Tarotkarten hielt.
Sadik glaubte feurige Schwerter, einen goldenen Kelch, Totengebein und sogar einen kopfunter Gehängten auf diesen Karten entdecken zu können. Doch er hatte nicht die Zeit, um genau hinzuschauen. Denn seine Aufmerksamkeit und sein Erschrecken galten in erster Linie der karmesinroten Kutsche, die aus Richtung Marienborn heranjagte, gezogen von einem Vierergespann pechschwarzer Hengste.
Es war die extravagante Kutsche des Grafen von Prettlach. Die Sitzbänke im Innern waren mit goldenem Samt bezogen, während Seitenwände und Decke mit königsblauer Seide bespannt waren. Innen wie außen trugen die Zierleisten einen Überzug aus Blattgold und mit Blattgold überzogen war auch das gräfliche Wappen auf dem Schlag. Und was die Pferde betraf, so waren es wohl die feurigsten Hengste, die man im Umkreis einer Tagesreise und weiter finden konnte, wie es hieß.
Jeder in und um Mainz kannte diese ungewöhnliche Kutsche mit dem satansschwarzen Vierergespann – und ihren Besitzer, den aufgeschwemmten Grafen von Prettlach, dessen exzentrischer Lebensstil Inhalt zahlloser Skandalgeschichten war.
Er war ein Mann, der seinen Reichtum und seine Macht rücksichtslos zu seinen Gunsten und den seiner Freunde einsetzte.
Diese Rücksichtslosigkeit bewies er bekanntermaßen auch auf der Landstraße. Seine Kutscher hatten die Anweisung – unter Androhung sofortiger Entlassung –, jeden von der Straße zu drängen, der in seinen Augen die Unverschämtheit und Respektlosigkeit aufbrachte, bei seinem Nahen nicht schon freiwillig an den Rand zu fahren und ihm auszuweichen.
Der Zigeuner vor ihm ahnte nichts davon und unterschätzte wohl auch die Geschwindigkeit, mit der ihm die Kutsche entgegenflog. Er machte auf jeden Fall keine Anstalten, sein Pferd zu zügeln und seinen Wagen an die Seite zu lenken.
Sadik stockte der Atem. Er hörte schon das wilde Trommeln der im gestreckten Galopp dahinrasenden Hengste und den scharfen Knall der Peitsche, die der Kutscher über den Köpfen der Tiere tanzen ließ.
Der Kastenwagen befand sich bereits auf der ansteigenden Auffahrt zur Brücke, als dem Zigeuner offenbar dämmerte, was passieren würde, wenn er nicht auf der Stelle zur Seite auswich und die Brücke freigab.
Was dann geschah, spielte sich in nur wenigen Sekunden ab. Der Zigeuner riss das Pferd nach rechts von der Straße und versuchte es gleichzeitig zum Stehen zu bringen, während die gräfliche Kutsche jeden Moment über die Brücke rasen musste.
Unglücklicherweise war der Boden abschüssig. Das hintere rechte Rad des Kastenwagens verlor festen Untergrund und geriet im Schnee ins Rutschen. Augenblicklich neigte sich der ganze Wagen gefährlich auf die Seite, rutschte seitlich den Hang hinunter und drohte umzustürzen. Jetzt geriet das Pferd in Sadiks Blickfeld. Es war ein zotteliger Brauner. Er legte sich mit einem schrillen Wiehern, das voller Angst war, ins Geschirr und mühte sich vergeblich, sich gegen die gewaltige Kraft zu stemmen, mit der ihn der rutschende Wagen rückwärts zog. Und in sein durchdringendes Wiehern mischte sich eine panikerfüllte menschliche Stimme.
Im selben Moment dröhnten acht Paar Hufe im Galopp über die schweren Bohlen der Brücke und die Kutsche flog an dem wegrutschenden Zigeunerwagen vorbei, ohne dass der livrierte Mann auf dem Kutschbock auch nur den Kopf zur Seite wandte. Noch immer feuerte er die Hengste mit Peitsche und Zurufen an. Und Sadik glaubte, regelrechte Schadenfreude aus der Stimme des Kutschers herauszuhören, als er an ihnen vorbeiflog. Wie Jakob Weinroth hinter ihm, so hatte auch er früh genug die Straße geräumt, wenn
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