Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
auch irgendwann unter der Last ihrer grässlichen Erinnerung zusammenbrechen würden.
Bei diesen tiefschwarzen Gedanken verfluchte er die Beinschiene, die Krücken, seine Bewegungsunfähigkeit und überhaupt seinen Beruf. In solchen Situationen war er bisher durch den Wald gerannt.
Dossier
Wenigstens einen kurzen Waldspaziergang könnte er mit den Krücken versuchen, ging ihm durch den Kopf. Fünf Minuten später stand er am Waldrand, allerdings mit einem derart ermüdeten linken Bein und schmerzendem Brustkorb, dass er langsam wieder zurückhinkte.
Walchers Stimmung schlug sich in seinem Dossier nieder.
Er schrieb nicht nur über Eltern, die ihre Kinder verkauften, über das Netz skrupelloser Entführer und Händler und über die Männer und Väter, die keine Skrupel hatten, Kinder zu missbrauchen. Walcher schrieb auch über die Gesellschaft, die sich über Kindesmissbrauch zwar kurzzeitig entrüstete, aber durch ihre Gleichgültigkeit Kinderschänder ermutigte. Auch über die Richter schrieb er und die oft unverständlich milden Strafen, hinter denen man beinahe schon Kumpanei vermuten konnte.
Welcher Bürger verstand denn nicht die Botschaft, wenn ein Steuerhinterzieher ins Gefängnis gesteckt wurde, ein Kinderschänder aber nur zur Therapiebewährung verurteilt wurde? Und über Politiker zog er her, die bei publikumswirksamen Fällen ihre Fensterreden hielten und schärfere Gesetze forderten, obwohl sie die Gesetzgebung in der Hand hatten.
Vor allem aber schrieb er über die Psyche der Kinder, über ihre Seelen, über die ersten Jahre eines Lebens, das hoffnungsvoll begann und bereits nach den ersten Schritten auf einer der hässlichsten Müllhalden dieser Welt endete. Traumatisiert und meist auch noch mit dem Stigma belegt, sich nicht genügend gewehrt zu haben, stand ihnen ein Leben voll psychischer Qualen bevor. Qualen, die ihr Ego zerstörten und ihre Hoffnung auf erfüllte Beziehungen meist auch. Welcher Hoffnung mochte Doro nachgejagt sein?
Toni
Die Mutter hatte ihm den Korb in die Hand gedrückt und gebeten: »Wenn du nach dem Jungvieh schaust, bringst Schnittlauch mit.«
Rund um das Ziebelmoos wuchsen nämlich Unmengen wilden Schnittlauchs, den sie kleingehackt in den Ziegenfrischkäse rührte und damit sogar schon einen Innovationspreis der Oberallgäuer Milchwirtschaft gewonnen hatte.
Nun saß Toni mit dem Korb voll frischem Schnittlauch, der so intensiv duftete, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief, an der aufgefüllten Spalte, die keine mehr war. Ein Meter fehlte noch, aber von der tiefen Spalte war schon jetzt nichts mehr zu sehen. Was verbarg sich unter den Steinen? Wie oft sich Toni in den zurückliegenden Wochen diese Frage gestellt hatte, wusste er nicht mehr, aber das interessierte ja ohnehin niemanden. Interessant war letztlich doch nur, wie er das Geheimnis lüften konnte. Denn dass sich dort nicht nur die armselige, verwilderte Ziege verbarg, davon war er felsenfest überzeugt. Vielleicht hatte der Pächter selbst auf die Ziege geschossen und wollte den Wildfrevel verbergen. Allerdings hatte Toni in der Hütte noch nie ein Gewehr gesehen, auch wenn man sie immer als Jagdhütte bezeichnete. Warum sollte ein Städter auf eine Ziege schießen, vielleicht, weil er sie mit einer Gämse verwechselte? Oder war es ein Wilderer, der sich ungern zum Gespött der Leute machen würde, weil er eine altersschwache Ziege erlegt hatte?
Der Kadaver lag ja auch ganz in der Nähe der Hütte. Aber … aber warum hatte der Pächter dann schon vorher den Spalt aufgefüllt? Nein, da steckte noch etwas anderes dahinter. Wenn er die Spalte wieder freilegen würde, überlegte Toni weiter, dann müsste er das unter der Woche machen, wenn der Pächter weg war. Vielleicht genügten zehn Tage? Die ersten zwei Meter konnte er die Steine aus der Spalte einfach hochwerfen. Ab drei Meter würde er sie mühsam auf einer Leiter hochtragen müssen. Toni schüttelte den Kopf. Nicht nur, weil er sich die Plackerei vorstellte, sondern weil er anderes zu tun hatte.
Das Heu musste eingebracht werden, der neue Stall für das Jungvieh war noch nicht fertig, und dann die Tagesarbeit, melken und käsen. Nein, da sollte er sich etwas ausdenken, damit andere die Steine schleppten.
Rollstuhl
Maßlos und mit Kalkül übertrieb Walcher die Schwere seiner Verletzungen und die daraus resultierenden Handicaps seines täglichen Arbeitslebens. Er hatte keinerlei schlechtes Gewissen, über diesen Weg den Abgabetermin seines
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