Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
verheilt sein. Sein rechtes Ohr zierte ein riesiges Pflaster, das am rundherum ausrasierten Kopf klebte und zusätzlich von einem über den Kopf gezogenen Netzstrumpf geschützt wurde. Die Blutergüsse an beiden Schläfen und am linken Ohr wiesen ein breites Farbspektrum auf, von hellem Gelb über Violett bis Dunkelbraun. Um den Hals trug Walcher einen Stützkragen, alles in allem ausreichend, um nicht nachlassende Wellen des Mitleids zu erzeugen. Dabei konnte man den Stützverband über der gebrochenen Rippe gar nicht sehen, obwohl die ihm die meisten Schmerzen bereitete.
Kommissar Brunner überreichte als besonderes Geschenk Walchers PC , der in Valeskous Auto gefunden worden war, und empfahl, künftig alle Daten automatisch auf einem versteckten Laufwerk zu sichern. Schließlich wäre das nun schon der dritte ungebetene Besuch in Walchers Haus.
Walcher spielte seine Freude über die Rückgabe, weil er schon in den ersten Tagen seines Klinikaufenthalts die frohe Botschaft erfahren hatte. »Jetzt kennen Sie vermutlich alle meine Geheimnisse«, grinste er den Kommissar an.
Dossier
Nach einer Woche Rekonvaleszenz war Walcher wieder so weit hergestellt, dass sich sein Alltag zu normalisieren begann. Die Beinschiene behinderte ihn zwar, zwang ihn jedoch zu jener Langsamkeit, die er stets als eine besonders philosophische Attitüde der Allgäuer hochlobte. So bekam jeder, der sich nach seinem Zustand erkundigte, zu hören: »In der Ruhe liegt die Kraft.«
Johannes und Susanna hatten jeweils für zwei Tage seine Betreuung übernommen, danach traf es Irmi, die nun froh war, dass die Schule wieder begonnen hatte. Walcher verbrachte die meiste Zeit im Rollstuhl und schrieb an seinem Dossier. Drei Dinge lernte er in dieser Woche besonders schätzen, den Rollstuhl, die Krücken und den Laptop. Natürlich auch sein Servicepersonal, bei dem er vor allem bedauerte, dass Susanna nur zwei Tage bleiben konnte, obwohl er in diesen Tagen nicht zum Schreiben gekommen war. Erstaunlich fand er auch, dass ihn keine Alpträume verfolgten und er keine Anzeichen eines Traumas feststellte. Immerhin erinnerte er sich sehr genau an seine Angst, die er im Folterkeller empfunden hatte.
Vielleicht sollte er sich anstelle seiner Selbstindikation aber doch um ein Gespräch mit einem Therapeuten bemühen, überlegte er. Wer konnte schon voraussagen, was sein Unterbewusstsein ausbrütete? Als er mit Brunner, der ihn alle zwei Tage besuchte, darüber sprach, hatte der eine einfache Erklärung, die er mit breitem Grinsen von sich gab: »Besoffene leiden selten unter Traumata.«
Brunner informierte Walcher auch über die wesentlichen Ergebnisse der Verhöre, denen die bundesweit festgenommenen Zuhälter, Menschenhändler, Entführer, Vergewaltiger und Sexkunden unterzogen worden waren. Allmählich entstand das erschütternde Bild einer perfiden Organisation, die sich seit drei Jahren in Deutschland aufgebaut hatte, unentdeckt und ungestört. Auch dass die Organisation zu einem der größten Syndikate Russlands gehörte, galt inzwischen als erwiesen, weshalb eigens eine Arbeitsgruppe in Planung war, die eng mit den russischen Behörden in Moskau zusammenarbeiten sollte.
Walcher hatte Nicolas Valeskou und seine Helfer wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung und versuchten Totschlags angezeigt, auch um als Nebenkläger zugelassen zu werden. Die Anklagepunkte gegen Valeskou galten allesamt als Offizialdelikte und waren somit automatisch Sache der Staatsanwaltschaft. Walcher ging es nicht um Rache, aber zum einen wollte er an dem Prozess gegen seinen Folterknecht teilnehmen, zum anderen würden bei diesem Prozess auch Valeskous Münchener Verbrechen verhandelt werden, und darüber wollte er mehr erfahren.
Dorothea Hubers Selbstmord, an dem Valeskou vermutlich keine Schuld im juristischen Sinne traf, versetzte Walcher phasenweise in den Zustand einer seltsamen Verzagtheit. Die Vorstellung, dass der Missbrauch durch ihren Vater Doros Leben wie eine tickende Zeitbombe, wie ein Fluch begleitet hatte, der in einem Selbstmord endete, ging Walcher nicht aus dem Kopf. Es gab keine Statistik, in der erfasst wurde, bei wie vielen Selbsttötungen ein psychischer oder physischer Missbrauch die treibende Kraft darstellte, zumal zwischen Ursache und Auswirkung oft ein halbes Leben lag. Walcher dachte an die Kinder im Burgund und in Berlin, eine Handvoll nur von einer weltweit ungeheuren Zahl entwurzelter und missbrauchter Menschen. Menschen, die vielleicht
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