Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
schief und beobachtete Erilea stumm, während sie die winzige Schriftrolle entfernte und entfaltete. Es stand nur eine einzige Rune darauf, ein deutlicher Abwärtsstrich mit einem weiteren Zug, der schräg quer durch die Mitte verlief. Obwohl Erilea nur wenige Runen kannte, wusste sie, dass dieses Zeichen als Symbol für eine Warnung galt. Es hieß Naudiz , und eine seiner Bedeutungen war GEFAHR.
Als Erilea es erblickte, schlug ihr Herz schneller. Was mochte geschehen sein, dass ihr Rael eine solche Botschaft sandte? Wie sollte sie darauf antworten? Die Nachricht war offensichtlich für Alduin bestimmt. Sein Freund wusste, was er vorhatte, und musste in Sanforan etwas herausgefunden haben, etwas, vor dem er Alduin warnen wollte.
»Arrrg«, knurrte Erilea. »Es ist zu spät, Rael. Ich wusste es! Ich wusste, dass Alduin sich in Gefahr begibt, aber er wollte es nicht zugeben. Du hattest recht. Die Verlockung, der Sache auf den Grund zu gehen, war zu mächtig für ihn. Er hat alle Vorsicht in den Wind geschlagen, und jetzt ist er ... jetzt ist er einfach verschwunden. Wahrscheinlich in dasselbe Niemandsland, in dem auch Cal sich aufhält.« Nachdem sie Verzweiflung und Wut in alle Windrichtungen gebrüllt hatte, begann sie, auf und ab zu laufen, während sie überlegte, was sie nun tun sollte. Sivella saß reglos da und beobachtete sie geduldig. Erilea blieb abrupt stehen. »Wartest du darauf, eine Nachricht mitzunehmen? Ist es so?«, fragte sie aufgeregt. »Heißt es vielleicht, dass Rael hierher unterwegs ist?«
Je mehr sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihr.
»Na schön, was also teile ich ihm mit? Und wie überhaupt?«, fragte sie sich laut und zermarterte sich das Gehirn.
Schließlich kam ihr ein Gedanke. Sie suchte im Lagerfeuer nach einem verkohlten Zweig, den sie zum Schreiben verwenden konnte. Dann zog sie die dicken Striche der Naudiz-Rune unmittelbar neben dem Zeichen nach, das Rael geschrieben hatte. Damit hoffte sie zu vermitteln, dass sie die Warnung einerseits verstanden hatte und andererseits die Gefahr bereits eingetreten war. Dann malte sie einen Flammendolch - ein Zeichen für die Waffe der Wunand. Auf diese Weise hoffte sie, Rael würde verstehen, dass die Botschaft von ihr stammte und Alduin nicht bei ihr war. Rael nahm gewiss regelmäßig Verbindung mit Sivella auf, dennoch war es durchaus möglich, dass er gerade jetzt nicht mit ihr flog und so die Begegnung mit ihr nicht miterlebte.
Erilea rollte das winzige Pergament wieder ein und befestigte es an Sivellas Klaue. Als sie fertig war, erhob der Falke sich in die Lüfte und flog zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
»Guten Flug, Sivella«, rief Erilea ihr hinterher. »Bring Rael her.«
Mit dem tröstlichen Gefühl, dass Hilfe unterwegs war, kroch sie in ihren Unterschlupf, und vor lauter Erschöpfung schlief sie binnen weniger Momente ein.
Sivella flog unermüdlich durch den schwindenden Tag und hielt erst zum Rasten an, als die Sterne am Himmel standen. Beim ersten Zeichen des Tagesanbruchs setzte sie die Reise fort.
Mit Cardols Unterstützung konnte Rael ein Pferd auftreiben. In gestrecktem Galopp ritt er durch den Wald auf einer alten Straße Richtung Nordosten und kam gut voran. Doch das zügige Tempo ermöglichte ihm nur selten Kontakt mit Sivella. Am späten Nachmittag erreichte er eine kleine Siedlung und erfuhr dort, dass der Ort an einer Weggabelung lag und eine Straße davon das Pandarasgebirge mit einigen Siedlungen an der Küste verband. Die Bewohner warnten ihn jedoch, die Straße zu benutzen. Sie sei nicht ungefährlich. Rael dankte ihnen für den gut gemeinten Rat, ließ sich jedoch nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er ritt weiter. Kurz nachdem er die Häuser hinter sich gelassen hatte, hielt er an, um Verbindung mit Sivella aufzunehmen. Er war bei ihr, als sie den Wasserfall des Mangipohr hinaufflog, über den spiegelglatten See schwebte und neben Erilea landete. Als er sah, dass sie alleine, ohne Alduin war, befürchtete er das Schlimmste. Er brach die Verbindung ab, grub die Fersen in die Flanken des Pferdes. Erst als er vor Erschöpfung schon beinahe vom Pferd fiel, entschied er sich, Rast zu machen.
Als Alduin seine Entscheidung getroffen hatte, war er verblüfft, dass alles in so weite Ferne gerückt war. All seine Befürchtungen, Wünsche und Sorgen, es schien, als würden sie ihn nicht betreffen, sondern jemand ganz anderen. Gewiss, die Furcht war noch
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