Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
unveränderte Welt zurückzukehren. Seine Freunde und seine Familie - sie alle würden eigener Wege gegangen sein. Nichts wäre mehr so, wie es einmal war. Die Gesichter all jener, die ihm lieb und teuer waren, zogen an ihm vorbei.
Wieder war es Erilea, deren Bild ihn nicht loslassen wollte. Wie viel Zeit wohl vergangen sein mochte, seit er sie am Strand zurückgelassen hatte? Es war unmöglich abzuschätzen. Draußen konnten die Vollmonde noch hoch am nächtlichen Himmel stehen oder bereits ein ganzer Siebentag verstrichen sein. Obwohl er wusste, dass er tief in seinem Inneren bereits eine Entscheidung getroffen hatte, klammerte er sich an einen letzten Strohhalm.
»Kann ich mich noch von Erilea verabschieden?«, fragte er.
Gilian musterte ihn mit verständnisvollem Blick, schüttelte aber den Kopf.
»Die Sonne ist bereits zu einem neuen Tag aufgegangen, und die Insel ist für alle Augen verborgen. Erst bei den nächsten Vollmonden wird sie sich wieder zeigen.«
»Dann weiß Erilea überhaupt nicht, was mit mir ...« Alduin rang nach Luft, als ihm klar wurde, was das zu bedeuten hatte. »Sie muss verzweifelt sein!«
»Aber du hast gewusst, dass es dazu kommen würde«, sagte Gilian mit sanfter Stimme. »Es war deine Entscheidung.«
»Nein, ich ... ich ...«
Alduin senkte den Blick, als er spürte, wie heiße Tränen in seinen Augen aufstiegen. Ja, er hatte es gewusst. Tief in seinem Inneren hatte er gewusst, dass es so weit kommen würde. Warum versuchte er nun, sich selbst zu belügen? Ihm war nur nicht klar gewesen, wie schmerzlich der Augenblick der Wahrheit sein würde - der Augenblick, in dem er alles aufgeben musste, was ihm am Herzen lag. Würde es den Preis wert sein?
Erilea beendete ihr Morgenritual ruhig und gefasst. Ihr war bewusst, dass sie nur abwarten konnte. Sie hatte Alduin ein Versprechen gegeben, also würde sie warten und nicht davonlaufen, auch wenn sich die Dinge nicht so entwickelten, wie sie es erhoffte. Aber sie würde mit Sicherheit auch nicht tatenlos abwarten. Sie würde sich einen Unterschlupf bauen und ein Lager aufschlagen. Spätestens zum nächsten Mondzyklus würde sie wieder nach der Insel suchen. Bis dahin könnte sie ein Floß gebaut haben, um überzusetzen.
Erilea verlor keine Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Jetzt im Hochsommer musste sie die Kälte nicht fürchten, aber es würden Stürme kommen. Deshalb musste der Unterschlupf solide gebaut werden. Sie bahnte sich einen Weg durch das Unterholz in den Wald und schnitt eine ordentliche Anzahl biegsamer Zweige ab. Nah am Strand fand sie zwei Bäume, die so dicht beieinanderwuchsen, dass ihre unteren Äste sich ineinander verflochten hatten. Sie breitete ihre Decke über dem Zweiggeflecht als Dach aus. Dann brachte sie das Reisig wie ein Flechtwerk zusammen als schützende Rückwand ihres vorübergehenden Unterschlupfes und dichtete es anschließend mit Schlamm, Reisig und Gras ab.
Die beiden Baumstämme waren die Seitenwände. Den Eingang beließ sie offen, um einen ungehinderten Blick auf den See zu haben. Besonders groß war der Unterschlupf nicht, doch ausreichend, um darin zu schlafen und ihre wenigen Habseligkeiten darin zu verstauen.
Den ganzen Tag war sie mit der Arbeit beschäftigt, und eh sie sich versah, berührte die Sonne bereits wieder den Horizont. Während sie einen weiteren majestätischen Sonnenuntergang abwartete, legte sie sich hin und kaute an Kaninchenbrocken und Wurzeln, die vom Vortag übrig geblieben waren. Die letzten Strahlen der Sonne stachen so grell durch die fernen Wolken, dass vor ihren Augen dunkle Flecke zu tänzeln begannen und sie die Lider fest schließen musste. Als sie die Augen wieder aufschlug, war die Sonne untergegangen. Sie sah einen schwarzen Fleck am Horizont. Etwas an seiner Bewegung wirkte vertraut, und ihr Herz füllte sich mit freudiger Erregung. Es war ein Falke. Rihscha! Ein Zeichen, dass Alduin auf dem Weg zurück war?
Erwartungsvoll sprang Erilea auf und rannte zum Wasser. Der Falke kam näher. Seine helle Brust spiegelte sich in der Oberfläche des Sees. Trotz des allmählich schwindenden Lichts sah Erilea, dass sein Gefieder nicht blaugrün war wie das von Rihscha.
»Sivella! Du bist schon wieder gekommen?«, rief Erilea in dem Augenblick aus, als sie den Falken erkannte. »Ist Rael bei dir?«
Sivella flog eine Schleife, bevor sie auf einem umgestürzten Baumstamm landete. An ihrer Klaue war eine Nachricht befestigt. Der Falke legte den Kopf
Weitere Kostenlose Bücher