Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
unbedeutend. Es war ihm bewusst, dass er die Geschichte Andauriens und dessen Volk verstehen wollte: Warum hatten die Menschen dort sich von den Göttern abgewandt, um der Dunklen Gottheit zu huldigen? Warum war es den verbleibenden Stämmen in Nymath nicht möglich gewesen, weiter in Frieden mit den Uzoma zu leben? War das Eingreifen der Elben richtig gewesen? Unzählige Fragen, und nicht eine einzige blieb unbeantwortet. Der Bildteppich des Lebens wurde vor seinen Augen gewoben. Er verstand den Zweck eines jeden Fadens, einer jeden Naht. Doch während sich alles vor ihm entfaltete, war es unmöglich, die Zeit zu bestimmen, die dabei verstrich. Und so wie die Zeit selbst, schien auch Alduins Herz stillzustehen.
Gilian wachte über Alduin. Er sah die strahlende Freude im Gesicht des Jungfalkners zu Beginn seiner Reise, doch er erkannte auch den Augenblick, in dem er in den Abgrund stürzte. Als er zusammenbrach, fing der Gott ihn auf, trug ihn durch die Kammer und legte ihn auf eine niedrige Bank. Dann kniete er sich neben ihn und schloss die Augen. Ein leiser Ton gleich dem reinen, hohen Ruf eines Falken drang über seine Lippen und schwoll zu einem mächtigen Crescendo an. Schließlich erkannte er, dass Alduin ihn gehört hatte und seine Reise wohlbehalten fortsetzen konnte. Er stand auf und verschwand in den Schatten unter einem der Torbogen.
Rael und Sivella begegneten sich früh am zweiten Morgen nach den Vollmonden.
»Meine schlaue Schöne«, lobte er. »Wie ich sehe, bringst du mir eine Antwort von Erilea.« Stolz schwang in seiner Stimme mit, während er dem Falken mit einem Finger liebevoll die Wange streichelte.
Er entfaltete die Schriftrolle und lächelte kurz. Das war Erilea, wie er sie kannte: Eine kurze, eindeutige Nachricht, die alles sagte, was er wissen musste. Aber als ihm klar wurde, was diese Botschaft für Alduin bedeutete, verdüsterte sich seine Stimmung.
»Wir kommen zu spät«, murmelte er bei sich und zog die Stirn in tiefe Falten. »Alduin ist etwas zugestoßen.«
Er seufzte tief auf. »Aber wenn das so wäre ...«, überlegte er weiter. Worauf wartet dann Erilea?« Er sah Sivella hoffnungsvoll an. »Es muss einen Grund geben, warum sie dort oben ausharrt. Lass es uns herausfinden!«
Zur Antwort erhob Sivella sich wieder in die Luft und stob in Richtung des fernen Sees davon.
»Warte am Fluss auf mich«, rief Rael ihr hinterher. »Ich muss wissen, wo ich ihn überqueren kann.«
Erilea gab sich alle Mühe, ihre Ungeduld zu zügeln. Sie wusste nicht, wie lange Rael brauchen würde, um sie zu erreichen. Die Ungewissheit wurde immer unerträglicher. In jener Nacht schlief sie unruhig und fuhr beim ersten Zwitschern der Vögel hoch. Bei Tagesanbruch stand sie schließlich auf, begrüßte die aufgehende Sonne. In ihr Morgenritual schloss sie ein Gebet zu Emo ein. Sie bat ihn inbrünstig, dass kein weiterer Sonnenuntergang verstreichen möge, ohne dass sie einen Weg aus ihrer Zwangslage gefunden hatte.
Um sich abzulenken, stockte sie ihre Lebensmittelvorräte auf. So würde sie Rael mit einer ordentlichen Mahlzeit begrüßen können. Je länger sie nach Wurzeln, fleischigen Zwiebeln, Kräutern und Beeren suchte, desto ruhiger wurde sie. Sie brachte ihr Lager auf Vordermann, ordnete die Steine sauber um das Lagerfeuer, flickte offene Stellen ihres Unterschlupfes und fegte den Bereich ringsum mit einer Handvoll Reisig.
Während sie arbeitete, wuchs in ihr ein unerklärliches Gefühl der Vorfreude. Beschwingt ging sie zum See hinunter, legte die Kleider ab und tauchte tief in das eisige Wasser ein. Nachdem sie sich mit Sand abgerieben hatte, griff sie nach ihren Kleidern, wusch sie und hängte sie zum Trocknen über die Büsche.
Als die Sonne ihren Höchststand überschritt, dachte sie daran, zum Festland hinüberzuwaten, um Rael am Gipfel des Steilhangs zu erwarten. Da ihr alles recht war, was ihr die Zeit zu vertreiben half, zog sie sich an und ging den Strand entlang, bis sie zu der Stelle im Wasser kam, an der sie mit Alduin die Insel betreten hatten.
Jetzt wurde es ihr bewusst: Sie saß hier fest! Erilea war nur in der Lage gewesen, das Wasser zu durchqueren, weil Alduin sie getragen hatte. Sollte sie es alleine versuchen, lief sie Gefahr zu ertrinken.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was, wenn Rael doch nicht unterwegs war? War sie dann dazu verdammt, ihr Leben wie ein Einsiedler zu fristen? Würde sie von der Welt, die sie kannte, für immer
Weitere Kostenlose Bücher