Fallen Angels 01 - Die Ankunft
anstrengte, die Silben korrekt zu hören, sich bemühte, in seinem Kopf zu entwirren, was er ihr da mitteilte. Das war das Schlimmste an seinem Fluch: Er konnte die Zukunft überhaupt nicht beeinflussen, weil er nicht wusste, was er prophezeite.
Immer weiter wich Marie-Terese vor ihm zurück, bis sie mit bleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen gegen die Tür prallte. Mit zitternden Händen fummelte sie an der Klinke herum und rannte aus dem Raum, fort von ihm.
Ihre Abwesenheit riss Vin zurück in die Realität, löste die gnadenlose Umklammerung, in der er sich befunden hatte, zerriss die Fäden, die ihn zur Marionette gemacht hatten von … er wusste nicht, von wem oder von was. Das hatte er noch nie gewusst. Schon beim allerersten Mal, als es von ihm Besitz ergriff, hatte er keine Ahnung gehabt, was es war oder was er da sagte oder warum - von allen Menschen auf der Welt - ausgerechnet er auserwählt werden musste, diese furchtbare Last zu tragen.
Um Himmels willen, was sollte er nur tun? Mit Störungen wie dieser konnte er weder in seinem Beruf noch in seinem Privatleben funktionieren. Und er wollte nicht die Zeiten als Kind noch einmal erleben, als die Leute ihn schlicht für verrückt gehalten hatten.
Außerdem durfte das hier eigentlich gar nicht passieren. Er hatte das doch ein für alle Mal erledigt, hatte getan, was man ihm aufgetragen hatte.
Er stützte die Hände auf die Knie und ließ den Kopf sacken; sein Atem ging flach, die eingerasteten Ellbogen waren das Einzige, was ihn aufrecht hielt.
In dieser Haltung fand Jim ihn.
»Vin? Was ist los, Chef? Haben Sie eine Gehirnerschütterung?«
Wenn es doch nur so wäre. Er würde eine Hirnblutung diesem In-Zungen-Reden jederzeit vorziehen.
Vin zwang seine Augen, scharf zu stellen. Und weil sein Mund immer noch auf dem Unabhängigkeitstrip war, hörte er sich selbst sagen: »Glauben Sie an Dämonen, Jim?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
»Dämonen …«
Eine lange Pause entstand, dann sagte Jim: »Wie wär’s, wenn wir Sie nach Hause bringen? Sie sehen nicht gut aus.«
Jims betontes Übergehen seiner Frage erinnerte Vin wieder an die höfliche Art, mit dem Andersartigen im Leben umzugehen. Es gab allerdings auch reichlich andere Reaktionen, von Marie-Tereses kopfloser Flucht bis hin zu offener Grausamkeit - die er als Kind zur Genüge zu spüren bekommen hatte.
Jim hatte Recht. Nach Hause musste er tatsächlich, aber er wollte auch unbedingt Marie-Terese finden und ihr sagen … Was? Dass ihm diese »Aussetzer« zwischen seinem elften und siebzehnten Lebensjahr regelmäßig passiert waren? Dass sie ihn seine Freunde gekostet und ihm den Stempel »Freak« eingehandelt und ihn dazu gezwungen hatten, sich alleine durchzubeißen? Dass es ihm leidtat, dass sie zweimal an einem Abend zu Tode erschreckt worden war?
Und vor allem: dass sie das, was auch immer er da gefaselt hatte, wirklich, wirklich ernst nehmen und sich schützen musste? Weil er sich niemals irrte. Zur Hölle und zurück mit ihm - aber was er voraussagte, traf immer ein.
Daher wusste er auch, dass es sich nie um gute Nachrichten handelte. Nach solchen Anfällen erzählte ihm meist irgendwann jemand aus dem Umfeld, manchmal auch der Betroffene selbst, was er gesagt und was es bedeutet hatte. Mein Gott, wie ihn das immer entsetzt hatte. Als er noch jung gewesen war und leichter Angst bekommen hatte, war er in sein Zimmer geflohen, hatte die Tür abgesperrt und sich zitternd und zähneklappernd unter der Decke versteckt.
So, wie er dem Tod geweihte Menschen sah, sagte er auch die Zukunft voraus. Die schlimme, die blutige, die zerstörerische.
Was für Probleme also hatte Marie-Terese?
»Kommen Sie, Vin. Gehen wir.«
Er wandte den Blick zur Tür. Das Netteste, was er wahrscheinlich für sie tun konnte, wäre, still und leise zu verschwinden. Die ganzen Erklärungen würden sie nur noch tiefer hineinziehen und ihr noch größere Angst einjagen. Aber ihr helfen, den Schwierigkeiten, die auf sie zukamen, aus dem Weg zu gehen, würde es nicht.
»Vin … ich bringe Sie hier weg.«
»Sie ist in Gefahr.«
»Vin, sehen Sie mich an.« Jim deutete sich mit zwei Fingern auf beide Augen. »Sehen Sie mich an. Sie müssen jetzt nach Hause gehen. Sie haben einige heftige Schläge auf den Kopf eingesteckt, und offensichtlich haben Sie gerade ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, in Ohnmacht zu fallen. Das mit dem ›kein Arzt‹ hab ich ja kapiert. Aber wenn Sie glauben, ich schau
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