Fallende Schatten
für mich bestimmte Nachricht entgegengenommen? Ich hörte noch die anderen drei, vier Anrufe ab, alle von Freunden, die sich Sorgen machten, während ich die Nummer der Hartfields wählte.
Grace war am Apparat. »Oh, Nell. Murray findet, Sie sollten in die British Library gehen und mit seinem Freund reden. Die Einbände könnten seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Einer von uns würde Sie hinbringen, aber … morgen kommen die Möbelpacker. Es tut mir leid, ich weiß, daß es eilig ist. Sein Name ist Graham Stockport. Wir haben ihm gesagt, Sie würden sich für morgen mit ihm verabreden. Hier ist die Nummer.«
»Murray hat gesagt, es gäbe Neuigkeiten?« hakte ich nach, während ich mir die Nummer notierte.
»Das war alles, fürchte ich. Aber ich rufe Sie an, wenn sich irgend etwas ergibt.«
Sie hielt Wort. Knapp eine Stunde später meldete sie sich wieder.
»Neuigkeiten?« fragte ich begierig.
»Ja. Ziemlich merkwürdige sogar. Und zwar ist vor ungefähr zehn Tagen jemand in die Bibliothek gekommen und hat wie Sie gefragt, ob irgend jemand den Buchbinder feststellen könne.«
»Vor zehn Tagen?« kreischte ich. Grace unterbrach sich und sprach erst weiter, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß mit mir alles in Ordnung war.
»Graham war sehr beschäftigt. Sein Assistent, der die Anfrage entgegennahm, hat dem Mann vorgeschlagen, das Buch dazulassen. Es wurde in Grahams Zimmer hinaufgebracht, aber er hat es beiseite gelegt, weil er anderes zu tun hatte. Und da lag es noch, auf seinem Schreibtisch, als er sich mit Murray unterhielt – sie schreiben zusammen an einem Buch. Graham hat es nicht geschafft, sich damit zu befassen, bis ein paar Stunden später der Portier angerufen und es angefordert hat. Ihm ist also nur soviel Zeit geblieben, daß er einen kurzen Blick darauf werfen konnte. Es war ein Einband wie Ihrer, grüner Saffian, die gleiche Prägung. Er sagte, er habe keine Ahnung, wer es gebunden hat.«
»Aber in Wirklichkeit schon?« fragte ich eher hoffnungsvoll als überzeugt.
»Zu dem Zeitpunkt nicht, genauer gesagt, nicht bis vor zwanzig Minuten.« In ihrer Stimme schwang triumphierende Freude mit. »Er ist bei uns vorbeigekommen. Die beiden sind gerade los, um ein Gläschen zu trinken. Ich habe gesagt, inzwischen würde ich Sie anrufen.« Sie klang höchst erfreut. »Hören Sie gut zu, Nell, das wird Ihnen gefallen. Der alte Graham ist ein ziemlicher Umständlichkeitskrämer. Vor ein paar Jahren hat jemand ihn hereingelegt, als einige wertvolle Bücher, die man ihm überlassen hatte, um sie zu schätzen, verschwanden. Deshalb photographiert sein Assistent jetzt automatisch alles, was zur Taxierung reinkommt, ehe es überhaupt in Grahams Hände gelangt. Nachdem er sich Murrays Photos angesehen hatte, ließ er einen Stapel Filme, die sich in letzter Zeit angesammelt hatten, entwickeln und – da war es. Er hat die Photos vorbeigebracht, um die beiden Bögen mit Abzügen miteinander zu vergleichen. Sie waren ganz begeistert von sich selber. Und jetzt feiern sie im Pub.« Sie schniefte. »Jeder Vorwand ist denen recht.«
»Wissen sie, wer sie angefertigt hat?« drängte ich sie ungeduldig.
»Nein. Aber Murray ist sicher, sie gehören zusammen. Und da ist noch etwas …«
»Was? Mein Gott, spannen Sie mich nicht so auf die Folter, bitte.«
»Graham meint, er habe vor geraumer Zeit einen ähnlichen Einband gesehen.«
»Oh, ist das alles?« Ich spürte, wie mein Mut sank.
»Es ist immerhin etwas. Sie haben die beiden neugierig gemacht. Ich bin mir ziemlich sicher, wenn jemand Ihren Buchbinder finden kann, dann sie. Hören Sie, Nell, ich kompliziere die Dinge nicht. Graham und Murray können ihn nicht identifizieren, aber sie kennen jemanden, der fast mit Sicherheit dazu in der Lage ist. Sie versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Seine Privatnummer steht nicht im Telefonbuch, daher müssen sie sich bis morgen gedulden. Offenbar ist er sehr eigen, was seine Privatsphäre betrifft. Sie werden’s wohl in der Bibliothek versuchen müssen.« Da ich annahm, es handle sich um die British Library, fragte ich nicht, welche Bibliothek sie meinte.
»Aber … aber, mein Buchbinder, der Freund meiner Mutter, schwebt möglicherweise in Gefahr …«
»Ja. Aber Murray wie auch ich hatten das Gefühl, wir dürften Ihr Vertrauen nicht mißbrauchen und das sagen«, erwiderte sie ruhig. »Sind Sie heute den ganzen Abend zu Hause? Ich geh die beiden holen. Wir denken uns einen Plan aus, und dann rufe ich
Weitere Kostenlose Bücher