Fallende Schatten
war in seinem Arbeitszimmer zusammengebrochen, vollständig bekleidet. Es ging ihm sehr schlecht. Er hat mich gebeten, ihn allein zu lassen, aber die Collegesekretärin, die mit mir zusammen hingegangen ist, hat den Notarzt gerufen. Noch während sie ihn in den Krankenwagen getragen haben, erlitt er einen Herzinfarkt. Und jetzt erholt er sich kaum. Jedes Mal wenn er zu sich kommt, fragt er nach Ihnen. Ich bitte Sie, kommen Sie mit. Bitte.«
Es gibt Augenblicke im Leben, da weiß man, wenn man jetzt etwas Bestimmtes tut, ist dies unwiderruflich. Dies schien ein solcher Augenblick zu sein. Ich saß da und starrte ihn an, so lange, daß er vermutlich dachte, ich hätte die Sprache verloren. Und da schwebte immer noch die Frage im Raum, ob ich diesem Fremden trauen konnte. Ich hatte die Tagebücher gelesen, daher wünschte ich mir, daß sein Vater jener M war. Vor allem ihn wollte ich sehen; den liebenswerten, sanften Jungen, der meine Mutter geliebt hatte. Garnier hatte lediglich den Mann auf dem Photo identifiziert. Reichte das? War dies nur eine weitere List? War er ebenfalls von Hanion oder Reynolds geschickt worden?
Ich bat ihn, sich ein paar Augenblicke zu gedulden, wusch mir rasch das Gesicht, stopfte die Tagebücher in meine Handtasche und rief Dr. Stockport an. Glücklicherweise war er nicht zu Hause. Nachdem ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, daß er einen Anrufbeantworter besaß, sagte ich höflich unsere Verabredung für den nächsten Tag ab. Ich hoffte, er wüßte, wie man das Ding zurückspulte; für so einen altmodischen Pedanten schien das ein gefährlich moderner Apparat zu sein.
»Ist Ihr Vater Buchbinder?« fragte ich unvermittelt, als ich mich wieder zu Dr. Garnier gesellte.
»Ja«, erwiderte er.
Kurz nach sieben machten wir uns auf den Weg nach Oxford. Ich bestand darauf, Dr. Garnier in meinem eigenen Wagen zu folgen. Obwohl mein Instinkt mir sagte, ich könne ihm vertrauen, hielt ich es für sicherer, kein Risiko einzugehen. Es hatten sich schon genügend Leute in meine Privatsphäre eingeschlichen. Lily allerdings wäre von ihm hellauf entzückt gewesen.
Was Autos betrifft, sind die Franzosen, selbst die Halbfranzosen, wahre Patrioten. Er fuhr einen schon fast obszön großen Citroën, und das wie ein Wahnsinniger. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen.
Ich war mir nicht sicher, ob ich die Erklärung, was seinen Namen betraf, glauben sollte. Nicht, daß mich das sonderlich interessiert hätte. Alles, was ich wollte, was ich verzweifelt wollte, war, dem Tod meiner Mutter auf den Grund zu kommen. Alles andere war nebensächlich.
Dr. Garnier hatte eindringlich und überzeugend gesprochen, aber in erster Linie vertraute ich ihm, weil er ebenso verwirrt und nervös schien wie ich.
Obwohl ich mich bemühte, konnte ich mich nicht daran erinnern, seinen Vater bei der Beerdigung gesehen zu haben. Aber nachdem ich die Tagebücher gelesen hatte, war ich bereits parteiisch, was ihn betraf. Doch an Liebe stirbt doch niemand, oder? Ich bin weder Französin noch besonders romantisch veranlagt, und es erschien mir einfach nicht vernünftig.
Seltsame, erschreckende Dinge waren mir seit Lilys Tod geschehen. Auf der Fahrt gab es genügend, worüber ich mir den Kopf zerbrechen konnte. Während ich die M 40 entlangraste, zwang ich mich, mir jede Einzelheit des Begräbnisses ins Gedächtnis zu rufen: wie ich zum ersten Mal Reynolds und dann Hanion erblickt hatte. Langsam tauchte, aus den Winkeln meiner Erinnerung, die schattenhafte Gestalt eines großen, gebeugten Mannes auf, der zum Friedhofstor hinkte. Wie Schachfiguren schob ich die drei Männer hin und her. Sie hatten mich gesehen. Hatten sie auch ihn wahrgenommen und erkannt?
Immer näher humpelt er zum Tor. Ich gehe, den Kopf gegen den Regen gestemmt, in die Kapelle, um mit dem Küster zu sprechen. Als ich wieder herauskomme, steht Hanion mit seinem Regenschirm unter dem Vordach. Wir laufen zum Auto. Von dem alten Mann ist nichts zu sehen. Wir stehen da. Irgend etwas passiert, während wir so dastehen. Was? Wasser bespritzt unsere Beine. Ein großer schwarzer Wagen fährt an uns vorbei. Ein Mercedes. Dunkel verspiegelte Scheiben. Dieses Auto. Irgendwo habe ich es noch einmal gesehen. Wo? Wo? Ich versuche es immer wieder, aber die Bilder sind verblaßt.
25
Wenn man aus östlicher Richtung von London nach Oxford kommt, liegt das John-Radcliffe-Krankenhaus – eine Aneinanderreihung geräumiger, moderner weißer Würfel – auf dem Headington
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