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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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Aufschrei von Hongkong bis hier herüber. Direktorenposten hatten auf seiner Tagesordnung gestanden, nicht auf meiner. Seiner Ansicht nach war ich dafür nicht geeignet. Der kann mich mal, dachte ich, reichlich grob, aber während das Hochgefühl vorhielt, kam ich mir fast wieder normal vor. Normal und ziemlich gemein, ehrlich gesagt. Meinem ehemaligen Liebhaber gegenüber, dem ich so inständig nachgetrauert hatte, meine ich.
    Benommen fuhr ich nach Hause, ganz langsam. Der Champagner spielte Achterbahn mit meinem Kopf und meinem leeren Magen. So ganz nüchtern war ich nicht, aber ich schaffte die Fahrt, ohne einen Unfall zu bauen. Dann legte ich mich hin, um meinen Schwips auszuschlafen. Gerade war ich eingenickt, da wurde ich vom beharrlichen Läuten der Türglocke geweckt. Einen wundervollen Anblick muß ich geboten haben, als ich völlig erschlagen die Tür öffnete. Der Fremde auf meiner Türschwelle schien es nicht zu bemerken.
    »Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe«, sagte er höflich. »Ist Ihr Name Gilmore?« Er hatte eine leise, gebildete Stimme mit einer winzigen Andeutung von ausländischem Akzent.
    »Ja. Wer möchte das wissen?« fragte ich argwöhnisch.
    »Ich«, erwiderte er und setzte urplötzlich ein höchst erstaunliches Lächeln auf. Vielleicht lag es am Champagner – und an meinem leeren Magen natürlich –, aber ich strahlte ihn ebenfalls an. Kann sein, daß die frisch gebackene Direktorin sogar kicherte. Dann erinnerte ich mich, den Bruchteil einer Sekunde zu spät, daran: Hüte dich vor Fremden.
    Er war schätzungsweise Mitte bis Ende dreißig. Sehr schlank und sehr groß und zwar nicht eigentlich schön, aber ziemlich gut aussehend. Dunkle, fast schwarze Augen, blauschwarze, grau melierte gelockte Haare, eine ziemlich markante Nase. Während ich ihn musterte, taxierte er mich genauso unverhohlen. Keine Ahnung, was er dabei gedacht hat. Wahrscheinlich nichts sehr Schmeichelhaftes. Ich war ziemlich zerzaust, mein Make-up hatte sich längst in der Tränenflut aufgelöst. Meine Angst und mein Argwohn waren vermutlich förmlich zu spüren, aber ich stand wie angewurzelt da, unfähig, mich zu bewegen.
    »Sie sind«, er blickte auf einen Zettel, den er dabeihatte, »Sie sind, hm, die Tochter von Lily Sweetman?«
    »Sie haben meine Mutter gekannt?« Mit offenem Mund, wie ein verwirrter Goldfisch, starrte ich ihn an.
    »Leider nein, nicht wirklich. Ich bin ihr einmal ganz kurz begegnet. Mein Vater und sie …«
    Seine beängstigend schwarzen Augen hypnotisierten mich, ich konnte den Blick nicht abwenden. Unablässig nickte ich, dann verschwamm alles um mich herum. Seine Stimme schien von weither zu kommen.
    »Mein Name ist Daniel Garnier«, erklärte er; er sprach ihn französisch aus. »Mein Vater schickt mich. Er ist krank und würde Sie gerne sehen. Darf ich reinkommen und Ihnen alles erklären?« Es klang verzweifelt.
    Ich griff nach der Tür, als ginge es um mein Leben. Noch ein Fremder. Noch ein sympathischer Fremder, der behauptete, Lily Sweetman gekannt zu haben, und in meine Wohnung wollte. Ich war allein, Maria und Steve waren noch in der Arbeit, ebenso die Leute in den Nachbarwohnungen. Angst und Argwohn müssen sich auf meinem Gesicht gespiegelt haben, denn er trat einen Schritt auf mich zu und streckte die Hand aus. Ich wich zurück, und da passierte es: Ich verlor das Bewußtsein.
    Auf dem Sofa kam ich wieder zu mir; der Mann hielt ein Glas Wasser an meine Lippen. Ich prustete und versuchte aufzuspringen, aber meine Füße versagten mir den Dienst. Vermutlich sah ich genauso lächerlich aus, wie ich mich fühlte, denn ihn schien das Ganze ungeheuer zu belustigen. Nicht auf unfreundliche Weise, nur, na ja, irgendwie freundlich, als sei ihm etwas recht Angenehmes geschehen. Nie zuvor war es mir in den Sinn gekommen, daß Humor ein verdammt gutes Heilmittel gegen Furcht ist. Als nächstes fühlte er meinen Puls.
    »Keine Angst, ich bin Arzt.« Der steckte voller Überraschungen. »Wann haben Sie zum letzten Mal etwas gegessen?«
    »Mittags?« Dann erinnerte ich mich, wie sehr ich Räucherlachs hasse, zumindest die abscheulich glitschige Sorte, die dieser Junge heute aufgetischt hatte. Ich mag ihn auf die schottische Art, ein wenig trocken und bröckelig, nicht dieses heringsähnliche Zeug aus dem Supermarkt. »Gestern Abend? Irgendwann gestern. Ich habe zur Zeit keine besonders große Lust auf Essen.«
    Ich beugte mich vor, preßte meinen hämmernden Kopf auf die Knie und bemerkte

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