Fallende Schatten
zehn Jahre alt war. Ich war auf einem Internat in Oxford; auf diese Weise habe ich ihn oft gesehen. Studiert habe ich in Aix. Meine Mutter führt nach wie vor das Weingut, zusammen mit ihrem Partner, einem Franzosen. Okay, das erklärt die Namen. Noch drei Minuten«, erklärte er und atmete tief durch.
»Meine Eltern sind miteinander in Verbindung geblieben. Aus der Entfernung kommen sie besser miteinander aus. Mein Vater zieht es vor, mit seiner Krankheit allein zurechtzukommen. Gelegentlich besucht meine Mutter ihn, da mein Vater nicht mehr verreisen will. Niemals. Deshalb weiß ich, wie viel Ihre Mutter ihm bedeutet hat. Er ist zu ihrer Beerdigung nach Irland gefahren.«
»Augenblick. Wenn er dort war und mich sehen wollte, warum hat er mich dann nicht angesprochen?«
Niedergeschlagen schüttelte Daniel Garnier den Kopf. »Würde ich sein Verhalten verstehen, könnte ich ihm vielleicht helfen, aber ich kann es nicht. Mein Vater ist ein trauriger, verängstigter Mensch. Ich habe nie herausbekommen, warum.« Er seufzte. »Ihre Mutter hat ihn jedoch verstanden, glaube ich. In ihrer Gegenwart schien er sich wohl zu fühlen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Das ist eine lange Geschichte und ergibt wahrscheinlich nicht viel Sinn, weil Sie ihn nicht kennen. Vor etwa eineinhalb Jahren war ich auf einem Ärztekongreß in Oxford und habe sie, rein zufällig, zusammen gesehen. Er wußte nicht, daß ich in der Stadt war. Ich ging die Woodstock Road hinauf zum Green College, als ich ihn erspähte, wie er in der Sonne vor einem Café saß, Browns. Er war in Begleitung einer Frau, und sie plauderten wie glückselige Kinder. Ich muß gestehen, ich war völlig überrascht. Papa geht sonst nie in Restaurants. Niemals. Und noch überraschter war ich, als er mich einlud, mich zu ihnen zu setzen. Leider war ich ohnehin schon zu spät dran für einen Vortrag, daher konnte ich nur ein paar Minuten bleiben. Es war wundervoll, sie waren so verliebt …« Reuig lächelte er mich an. »Zu französisch, hm?« fragte er schelmisch. Ich lächelte schwach zurück.
»Neben ihr auf dem Tisch lag eine Kamera. Sie fragte mich, ob ich sie photographieren würde. Sie sah so … so … gaie … aus.« Erneut ein typisch französisches Achselzucken. Das war zu viel für mich. Ich ging ins Schlafzimmer, holte den Umschlag mit den Photos und legte ihn schweigend vor ihm auf den Tisch.
»Ach, Sie haben sie!« Er zog sie aus dem Umschlag, betrachtete sie alle eingehend und blickte mich aufgeregt an. »Gut, jetzt wissen Sie, ich …« Er schob die Photos hin und her und unterteilte sie dann in zwei ordentliche Reihen. »Wirklich, äußerst interessant, finden Sie nicht? Sie sagen so viel über die beiden aus.« Ich folgte seinem Blick, kam aber nicht dahinter, was er meinte.
»Schauen Sie. Diejenigen, die mein Vater aufgenommen hat – sehen Sie, er konzentriert sich auf die Gebäude, ihre Mutter ist immer nur leicht verschwommen zu erkennen. Und jetzt sehen Sie sich ihre an – er ist immer deutlich zu erkennen, die Gebäude hingegen nicht.«
»Sie meinen, er hat ihr mehr bedeutet als sie ihm?«
»Wenn ich sie nicht zusammen gesehen hätte, sondern nur diese Bilder, würde ich das vielleicht annehmen«, sagte er sanft. »Aber ich habe sie gesehen. Nein, mein Vater hat Angst. Angst vor dem Leben und Angst vor den Leuten. Das war schon immer so bei ihm. Und genau das zeigen diese Bilder. Er ist zu alt, um sich noch zu ändern. Er hat sie geliebt. Darauf könnte ich schwören. Aber vielleicht konnte nicht einmal sie ihm genügend helfen.« Er schob die Photos beiseite und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
»Nachdem er von der Beerdigung zurückgekommen war, wurde er krank. Er glaube, er hat einfach nichts mehr gegessen. Und ins College ist er auch nicht mehr gegangen. Aber das hat er hin und wieder gemacht, daher ist es nicht weiter aufgefallen. Außerdem sind gerade Ferien und nur wenig Leute da. Über eine Woche hat man seine Abwesenheit nicht bemerkt. Dann hat der Bibliothekar Alarm geschlagen, als er ins College gegangen ist, um etwas abzuholen, das restauriert werden sollte, und festgestellt hat, daß mein Vater nicht da war. Sie haben jemanden zu seinem Haus geschickt, aber es schien leerzustehen. Die Nachbarn konnten ihnen auch nicht weiterhelfen, sie haben meinen Vater kaum gekannt. Nach dem dritten oder vierten Versuch hat der Bibliothekar mich in Frankreich angerufen.
Ich bin sofort gekommen. Und da habe ich ihn gefunden; er
Weitere Kostenlose Bücher