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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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Hill.
    Glücklicherweise waren die Straßen frei, und wir schafften es in gut einer Stunde. Daniel Garniers Vater lag im siebten Stock, in der kardiologischen Abteilung, die sich über die ganze Längsseite des Gebäudes erstreckte. Sie war in mehrere Vierbettzimmer unterteilt, die auf den Korridor führten.
    Ich erkannte ihn auf der Stelle, so sehr ähnelte er seinem Sohn. Dieser war schlank, der Vater hingegen ausgemergelt. Sein Bett, umgeben von einer ganzen Batterie von Monitoren, stand in der zentralen Einheit, unmittelbar neben dem Schwesternzimmer. Er sah schrecklich aus; sein Gesicht hatte eine gräulich-weiße Farbe. Schläuche in seiner Nase und Drähte auf seiner Brust und seinen Armen waren an die Unzahl flimmernder Apparate am Kopfende des Bettes angeschlossen. Als wir ankamen, war die Besuchszeit bereits vorbei, und es brannte nur noch die gedämpfte Nachtbeleuchtung, aber für die Schwerkranken oder Sterbenden galten Zeitpläne offenbar nicht.
    Der alte Mann schlief, sein Atem ging flach und rasselnd. Hin und wieder durchlief ein schreckliches Zucken seinen Körper. Gleich nach unserer Ankunft ging Dr. Garnier zu dem jungen Medizinalassistenten und der Krankenschwester ins Stationszimmer, um sich mit ihnen zu beraten, während ich mich leise neben das Bett setzte. Ich hatte das unheimliche Gefühl, Lily schwebe irgendwo ganz in der Nähe erregt umher und versuche, etwas zu sagen.
    War dies der M der Tagebücher? Woran sollte ich das erkennen? Mit Sicherheit war er der Mann vor dem Café. Ich holte das Photo aus meiner Handtasche, um Bild und Wirklichkeit miteinander zu vergleichen: die wunderschönen schlanken Hände waren nicht blaß wie auf dem Bild, sondern von einem ungesunden bläulichen Weiß. Zwar war das fein geschnittene, faltenlose Gesicht viel hagerer, aber das dichte graue Haar war das gleiche. Sein Sohn sah nicht so attraktiv aus, aber ich hoffte, daß er glücklicher war. Sogar mit geschlossenen Augen strahlte der Vater Traurigkeit aus. Obwohl ich mir das vielleicht nur einbildete.
    Als er aufwachte, warf er den Kopf unruhig auf dem Kissen hin und her. Als ich ihn von der Seite betrachtete, kam mit plötzlichem Erschrecken die verschwommene Erinnerung an jene schlanke, grauhaarige Gestalt zurück, die bei Lilys Beerdigung zum Friedhofstor gehinkt war. Ich schloß die Augen, um das Bild festzuhalten. Erneut stellte ich die Trauergäste und Zuschauer an ihren Platz: die Nachbarn, die Freunde, Hanion, Arthur Reynolds, mich selber und M. Ich sah, wie er sich auf den Ausgang zu bewegte, dann entschwand er meinem Blick. Wo war er hingegangen? Hatte er ein Auto? Hatten Hanion und Reynolds ihn beobachtet, um zu sehen … um was zu sehen? Plötzlich erschien es mir offenkundig. Sie wollten sehen, ob er mich ansprechen würde. Aber klug hatte M sich von mir ferngehalten. Sie hatten ihn übersehen. Oder doch nicht?
    Hatte noch jemand anderer die Szene beobachtet … ihn beobachtet? O ja, dachte ich, o ja. Auf dem Rücksitz dieses verdammten schwarzen Wagens hatte jemand auf der Lauer gelegen.
    Er versuchte, etwas zu sagen. Das Flattern seiner Finger auf meiner Hand unterbrach mich in meinem Tagtraum, und als ich mich über das Bett beugte, sah ich, er hatte die Augen aufgeschlagen und sah mich flehentlich an.
    »Näher«, formten seine Lippen, dann schloß er vor Erschöpfung wieder die Augen. Der Pulszähler schnellte auf 106 und fiel dann auf 62 zurück. Eine erschreckende Faszination ging von den auf und ab tanzenden Zahlen aus. Ich riß meinen Blick davon los und hielt mein Ohr an seine kalten Lippen.
    »Nell?« flüsterte er und umklammerte meine Hand. »Lilys Tochter?«
    »Ja. Ich bin Lilys Tochter, Nell. Sind Sie, hm, M?«
    Erschöpft sanken seine Augenlider herab. »Milo.« Eher ein Hauch als ein Laut, und Lilys Milo verlor das Bewußtsein. Ich lehnte mich zurück und beobachtete ihn, bis er sich wieder bewegte. Grimmig kämpfte er gegen seine Dämonen an, der Arme, aber die Anstrengung war entsetzlich. Ich holte die zwei Tagebücher aus meiner Handtasche und schob sie unter seine rechte Hand. Dann versuchte ich, seine kalten Finger mit meinen zu wärmen, und nach einer Weile bewegten sie sich langsam über den oberen Einband und zeichneten das Muster nach. Die Augen hatte er nach wie vor geschlossen. Er zog seine Hand unter meiner hervor, als suche er etwas. Dann krallte sie sich plötzlich in die Bettdecke. Fast spürte ich die Mühe, mit der er versuchte, seine Augen wieder zu öffnen,

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