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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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aber er war zu schwach.
    »Milo?« flüsterte ich ihm ins Ohr. Es erschien mir einfach natürlich, ihn so zu nennen. Als hätte ich ihn mein Leben lang gekannt. »Wie viele davon gibt es? Milo? Wie viele Tagebücher haben Sie gebunden?«
    Erneut eine lange Pause, als er wieder das Bewußtsein verlor. Als ich meine Hand ausstreckte, um seine zu umfassen, bemerkte ich, daß drei Finger ausgestreckt waren; den kleinen Finger und den Daumen hatte er unter die Handfläche gesteckt. Seine Augen waren nach wie vor geschlossen.
    »Drei? Waren es drei Tagebücher, Milo?« Ich brachte meinen Kopf ganz nahe an das Kissen. Er roch wie getrocknete Äpfel.
    »Und … Kiste … Briefe. Kiste.« Die Worte waren zwar nur schwach, aber klar und deutlich zu hören.
    »Sie haben auch eine Kiste gemacht? Eine Kiste für Lilys Briefe?«
    »Und meine.« Sein Kopf rollte seitwärts, und er stieß einen tiefen, zittrigen Seufzer aus. Die Kurven für den Herzrhythmus tanzten eine Mazurka, und die Zahlen auf den Monitoren veränderten sich blitzartig. Hinter mir hörte ich eine Krankenschwester; sie sprach sehr schnell, dringlich. Daniel kam zurück und setzte sich auf die andere Seite des Bettes. Er berührte die Stirn seines Vaters mit den Fingerspitzen.
    »Papa? Lilys Tochter ist hier. Papa?«
    »Danny.« Das Wort war kaum wahrnehmbar, aber nie hatte ich einen Namen mit solcher Liebe ausgesprochen gehört. Milos Augenlider flatterten auf, ein schwaches, angedeutetes Lächeln spannte die ausgetrockneten Lippen. Sein Sohn nahm einen Wattebausch aus einem Glas auf dem Nachttisch und hielt ihn Milo an den Mund. Es war quälend anzusehen, welche Mühe es ihn kostete, daran zu saugen. Ich spürte, wie seine zittrigen Finger meinen Ärmel umklammerten.
    »Lily … Liebe … Lily … Leben … getötet … Re … Nell … Ko … Gefahr … aus …« Die Laute waren nach langen, schmerzhaften Pausen schwach zu vernehmen, während seine Lippen aus dem Schweigen, das die scheinbar zusammenhangslosen Worte umgab, Sätze formten. Zehn Worte. Ich nahm meinen Zahlentrick zu Hilfe und prägte sie meinem Gedächtnis ein. Lily, Liebe, Lily, Leben, getötet, Re, Nell, Ko, Gefahr, aus.
    Obwohl ich mich immer dichter über seinen Mund beugte, als seine Lippen sich weiter bewegten, konnte ich das Wort, das er ständig wiederholte, nicht verstehen. Aus, aus, aus. Aus? Kraus? Haus? Es hätte Haus sein können.
    »Haus? Meinen Sie ›Haus‹, Milo?« Mit ungeheurer Anstrengung nickte er kaum merklich.
    »Wessen Haus, Milo? Ihres oder das von Lily?«
    Er antwortete nicht. Die Zahl auf dem einen Monitor ging plötzlich nach unten, erst langsam, dann immer schneller. Wie gebannt starrte ich auf die tanzenden grünen Lichter. 98,74,53,38, 26,12,4. Milos Hand lag auf seiner Brust, den Zeigefinger hatte er ausgestreckt. Ein durchdringendes, anhaltendes Piepsen ertönte, und sofort scharten sich Krankenschwestern und Ärzte um das Bett; ich merkte, wie Daniel mich behutsam auf den Gang hinausschob. Er führte mich schnell weg und umfaßte dabei fest meinen Ellbogen. Unwillkürlich entrangen sich heisere Schluchzer meiner Kehle.
    »Jetzt brauchen wir beide eine Tasse Kaffee«, erklärte er mit zittriger Stimme. Wir gingen auf den Lift zu.
    »Was ist passiert?«
    »Wahrscheinlich wieder ein Myokardinfarkt – ein Herzinfarkt; er hat immer wieder welche, seit er hier ist.«
    »Wird er … Wird er …?«
    »Sterben? Ja.« Seine Stimme war ausdruckslos, ohne Leben. »Wahrscheinlich innerhalb der nächsten paar Tage. Aber heute nacht, glaube ich, nicht.«
    Ich sah zu ihm auf, hätte es jedoch um mein Leben nicht fertiggebracht, ihn zu fragen, warum er so überzeugt klang. Ich brauchte es gar nicht, er antwortete von selber.
    »Er hat zu sehr gekämpft, ist zu entschlossen. Es hat, glaube ich, etwas mit Ihnen zu tun. Oder mit Ihrer Mutter. Er will … Gott weiß, was er will …« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sah auf mich herunter. In der engen Aufzugkabine wirkte er noch größer und auf ergreifende Weise viel jünger, verletzlicher. Während wir abwärts fuhren, notierte ich die zehn zusammenhangslosen Worte auf der Rückseite meines Scheckhefts und stopfte es in meine Tasche zurück.
    Keiner von uns sagte etwas, ehe wir die Kantine erreichten. Weder jemand von der Belegschaft noch irgendwelche Kunden waren da; lediglich ein Automat für kalte und heiße Getränke stand uns zur Verfügung. In dem Augenblick, als ich sah, es gab hier nichts zu essen, bekam ich

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