Fallende Schatten
Ein Labyrinth schmaler Gassen und Straßen wucherte in alle Richtungen. Einige der ältesten Häuser und Cottages waren aus dem cremefarbenen Stein der Gegend gebaut, prachtvolle und bescheidene Gebäude kunterbunt durcheinander. Dem Verlauf der kurzen Straßen schien kein erkennbares Muster, keine Ordnung zugrunde zu liegen. Wenn ich je etwas gesehen hatte, das organisch gewachsen war, dann dieses Viertel.
Wir gingen nicht direkt zu dem Haus; es machte Daniel offenbar Spaß, mich durch eine der für den Verkehr gesperrten kleinen Straßen nach der anderen zu führen. Oder vielleicht wappnete er sich innerlich gegen das, was er dort möglicherweise vorfände? Er schien gedankenverloren, nervös.
Schließlich kletterten wir aus einer Mulde in den offenen Vorhof eines wunderschönen alten Pub; ich war überrascht, als ich in ein paar hundert Meter Entfernung die Autobahn sah. Die kurze Straße, die zu ihr führte, war auf der einen Seite von einer prachtvollen Steinmauer, auf der anderen von Cottages gesäumt. Abgesehen vom Verkehrslärm war es, als spazierten wir auf einem Streifzug durch die Vergangenheit durch ein Dorf auf dem Land.
»Ist das die Straße nach London?« fragte ich, um mich zu orientieren.
»Mehr oder weniger. Ein paar hundert Meter weiter ist ein kleiner Platz mit Kreisverkehr; von dort aus kommt man direkt zur Autobahn.« Er deutete nach links.
»Praktisch.«
»Sehr. Sogar mit dem Bus. Er hält an dem kleinen Platz.«
»Der Bus, der von Heathrow kommt?« fragte ich überrascht.
»Ja, ich glaube schon.« Er sah mich an, den Kopf auf die Seite gelegt, als folge er meinem Gedankengang. Aber ich dachte nicht an mich.
»Meine Mutter ist immer mit dem Bus gefahren«, erklärte ich knapp. Das hatte sie in der Tat gemacht. Lily erstaunte mich immer wieder aufs neue. Ich wußte nicht, sollte ich lachen oder weinen. Welchen Spaß sie daran gehabt haben mußte! Auf meine Kosten? Ich schob den Gedanken beiseite. Allmählich war mir aufgegangen, welch unbedeutende Rolle ich bei den Verabredungen mit ihrem Geliebten gespielt hatte.
»Dann hatte sie es, wie du gleich sehen wirst, zu Fuß nicht weit«, meinte er. »Wir sind fast da.« Er zog mich in eine schmale Straße, die nach rechts abbog. Sie verlief entlang einem lang gestreckten Steinhaus, das aussah, als sei es einst eine kleine Aneinanderreihung von Cottages gewesen. Am anderen Ende überquerten wir eine weitere kurvige Straße und bogen dann in die zweite der dort abbiegenden ungeteerten Gassen ein, in denen Schilder den Weg zum Shotover Hill wiesen.
»Alle Wege führen nach Shotover«, bemerkte ich und berichtete Daniel von meinem Morgenspaziergang.
Wir waren wieder mitten auf dem Land. Die Cottages waren offenbar älter als die Straße, die sich mühsam um sie herum schlängelte. Nicht ein einziges der fünf oder sechs Häuser blickte in die gleiche Richtung. Die Gärten waren voller Blumen, überall standen Bäume. Ich fand es wunderschön und sagte das Daniel.
»Nun ja«, erwiderte er lakonisch. »Ja und nein. Zu nahe an der Umgehungsstraße. Es ist laut hier, vor allem im Sommer, wenn man die Fenster offenstehen läßt. Aber du hast recht, ich halte es für den schönsten Teil von Quarry. Da sind wir.«
Wir blieben vor dem letzten Tor auf der Straße stehen, das als einziges von hohen Bäumen umrahmt war, die das ganze Haus vor Blicken verbargen. Als wir darauf zu gingen, wurde mir klar, es war wie alles an Milo – geheimnisvoll. Er hatte ein wunderschönes, abgeschiedenes kleines Versteck für sich gefunden.
Das große, hübsche Cottage sah irgendwie einer Kinderzeichnung gleich: in der Mitte befand sich die Haustür, auf jeder Seite davon ein Fenster und darüber drei. Ein niedriges Dach, die Wände weiß getüncht, das Holz in dunklem, schwärzlichem Grün gestrichen. Die Zweige einer uralten Glyzine umrankten eine Reihe dünner Metallbögen, die das Haus wie überdachte Wege umrundeten. Der Garten wirkte vernachlässigt, als hätte er bessere Zeiten gesehen – schließlich war es Ende August, und der Sommer war heiß gewesen; nahezu zwei Monate hatte es kaum geregnet. In einem durchschnittlichen Sommer jedoch mußte er, so stellte ich mir vor, himmlisch sein. Wenn das Haus einer Kinderzeichnung ähnelte, dann glich dies hier aufs Haar dem verwunschenen Garten. Für Lily war es vermutlich ein Traum gewesen.
Während Daniel sich mit den Türschlössern abmühte und die Alarmanlage ausschaltete, schlenderte ich zur Rückseite des
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