Fallende Schatten
Hauses. Zwischen dem Vorgarten und dem Garten hinter dem Haus gab es keine Trennungslinie. Das Ganze machte den Eindruck, als sei das Haus einfach mitten auf einem kleinen Stück Land abgestellt worden, das hinten an einen Friedhof grenzte. Die anderen Häuser in der Straße waren nicht weit entfernt, aber das einzige Gebäude, das man von Milos Garten aus sehen konnte, war die Kirche. Ein kleines, massives Holztor führte auf die schmale Straße, die nur ein paar Meter vom Eingang zum Friedhof verlief. Ich versuchte, den Riegel hochzuschieben, aber nach ein paar Zentimetern klemmte er.
Innen war das Haus ziemlich klein, zwei Zimmer oben, zwei unten; lediglich an das Erdgeschoß schloß sich hinten ein einstöckiger Anbau. Nie habe ich ein ordentlicheres Haus gesehen. Alles befand sich am richtigen Platz. Ein Wohnzimmer rechts von der winzigen Diele, und links davon ein Arbeitszimmer mit Bücherregalen, das den Eindruck erweckte, als wäre es einst das Speisezimmer gewesen; an der rückwärtigen Wand war eine Durchreiche zur Küche zu sehen.
Beide Zimmer waren etwa viereinhalb auf viereinhalb Meter und hatten erstaunlich hohe Wände – an die zwei Meter zehn, schätzte ich. Was gar nicht unpraktisch war, wenn man bedachte, wie groß gewachsen Vater und Sohn waren. Die makellos saubere, moderne weiße Küche führte zu einem wunderhübschen Wintergarten, der Raum für einen kleinen ovalen Tisch und zwei Stühle bot. Ein paar eingetopfte Pflanzen, ein Orangen- und ein Zitronenbäumchen, verströmten einen hinreißenden Duft.
Alles war wunderschön angeordnet, nichts stand an der falschen Stelle. Allerdings hatte ich den Eindruck, auf ein Kind, das hierher zu Besuch kam, mußte es einigermaßen einschüchternd gewirkt haben. Als ich aufblickte, bemerkte ich, wie Daniel meine Reaktion beobachtete. Ich glaube, er verstand meine Vorbehalte, denn er führte mich wieder ins Arbeitszimmer und deutete auf ein Paar Krücken neben dem Kamin. Unsere Blicke begegneten sich. Verdammt. Ich hatte Milos Behinderung vergessen. Alles war so angeordnet, daß man sich bequem bewegen konnte. In dem Licht betrachtet, gewann das Haus seinen Zauber zurück.
In der Nische rechts neben dem Kaminvorsprung stand ein riesiger Apparat aus Holz. Offenbar eine Art Presse, aber mich erinnerte er an eine Guillotine. Auf dem massiven hölzernen Rahmen ruhten zwei Querbalken. Von der Mitte des oberen drückte eine mächtige Kurbelschraube auf eine große, viereckige, mindestens zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter dicke Holzplatte. Der untere Teil der Presse bestand aus einem Holzwürfel, auf dem zwischen jeweils zwei von einigen viel dünneren Brettern zusammengefalteter Stoff lag. Die Presse war nicht ganz, aber doch fast so groß wie Daniel.
»Was ist das?« fragte ich.
»Eine französische Standpresse – ursprünglich zum Binden von Büchern gedacht. Wie du siehst, benutzt Milo sie, um seine Bettücher zu glätten.« Wehmütig lächelte er mich an. »Obwohl – vielleicht auch zum Binden von Tagebüchern, was meinst du?«
»Französisch?«
»Ja, aber ich glaube, solche Pressen wurden auch in England hergestellt. Tatsächlich gibt es in seinem College ein paar von der Art. Die hier ist aber wirklich französisch. Sie stammt aus einer kleinen Stadt in der Gegend, aus der ich komme.«
»Du hast sie mit herübergebracht?«
»Ja, man kann sie zerlegen. Wir haben sie auf einem Antiquitätenmarkt gefunden und gedacht, Papa würde sich darüber freuen. Ich glaube, nie habe ich ihn so glücklich gesehen. Er liebt sie. Er hat gesagt, sein erster Lehrer hätte eine solche gehabt.« Er lächelte, als er sich daran zurückerinnerte.
Wir. Wir haben sie gefunden. Wir. Dieses ausschließende Wir. Der stechende Schmerz der Enttäuschung überraschte mich. Aus Angst, er könnte mir das anmerken, wandte ich mich ab. Schließlich und endlich waren wir beide ungebunden. Ich erzählte ihm nicht, daß jener erste Lehrer Josh Handl geheißen hatte. Es schien mir überflüssig.
»Ich weiß nicht, wo er seine Briefe und sein Tagebuch aufbewahrt, aber wie du siehst, so viele Möglichkeiten gibt es gar nicht.« Er legte den Arm um meine Schulter, zog mich an sich und vergrub sein Gesicht in meinem Haar. »Diese beiden Zimmer, und oben sein Schlafzimmer. Nell?«
»Ich gehe alleine nach oben.« Mehr brachte ich nicht heraus. Ich fühlte mich einsamer denn je. Ausgeschlossen. Keiner von uns beiden hätte jetzt die Intimität des Schlafzimmers ertragen, wegen
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