Fallende Schatten
irgend etwas würde herausfallen – ein Brief oder auch nur ein Notizzettel – blätterte ich sie durch. Nichts. Beiläufig sah ich auf die Titel. Das eine war von Swift, das andere eine Biographie Wilfred Owens.
Im Wohnzimmer war Lilys Einfluß zu spüren. Ein wunderschöner Orientteppich in Blau und Rosa lag auf dem Haferschrot. Die Wände waren vom gleichen hellen Bräunlich-Orange wie der Teppich. An beiden Wänden standen Bücherregale, in den Alkoven rechts und links vom Kaminvorsprung hingen jedoch über zwei zueinander passenden, wunderschönen antiken Kommoden zwei riesige Landschaften in herrlichen sommerlichen Farben. Über die Polstermöbel – ein Chesterfield-Sofa und einen Sessel – waren locker Überdecken gebreitet, die zu den Vorhängen mit breiten blauen und weißen Streifen paßten. Der nüchterne Milo hatte also zugelassen, daß sie – wohl einigermaßen gewaltsam – seinen Lebensstil geändert hatte. Die Bücherborde sahen aus, als wären sie am liebsten ausgewandert. Ich fragte mich, ob er sich je in dem Raum aufgehalten hatte, wenn Lily nicht da war.
Noch bevor ich meine Suche begann, wußte ich, im Wohnzimmer würde ich nichts finden. Und das war dann auch so. Natürlich wäre es hilfreich gewesen, wenn ich gewußt hätte, wonach ich suchte. Ich zog Schubladen auf, langte hinter Bilder, tastete zwischen den Polstern. Bei den Bücherregalen unternahm ich lediglich einen halbherzigen Versuch, denn bereits jetzt war mir klar, ich müßte mir alle Bücher einzeln ansehen. Aber erst später, nicht jetzt. Die Zeit verrann. Ich hatte Daniel versprochen, ins Krankenhaus zu kommen. Meine Unruhe wuchs. Jedes Geräusch, das ich nicht selber verursachte, ließ mich zusammenzucken. Als die Kirchturmglocke elf schlug, fuhr ich erschreckt herum. Es klang, als ertönte sie im angrenzenden Raum.
Vielleicht war es dieser Eindruck, der mich ins Arbeitszimmer zurücktrieb. Irgend etwas, das die vollkommene Ordnung störte, beunruhigte mich. Ich lehnte am Türrahmen und ließ meine Blicke langsam die Wände entlang und über die Möbel schweifen. Das Buch auf dem Tisch. Ich beugte mich vor und nahm den Swift. Lilys Haus stand in der Swift Terrace. Ich blätterte es durch, klappte die Buchdeckel ganz zurück und spähte in den Hohlraum im Buchrücken – nichts. Es mußte etwas bedeuten. Aber was? Kerzengerade saß ich auf Milos Stuhl und versuchte, zu erraten, worauf sein Blick wohl gefallen war. Der untere Teil der französischen Presse. Und genau da wurde ich fündig.
Ich drehte die Kurbelschraube und zog die Bretter heraus. Die Laken und die Bretter legte ich auf den Boden und zog den Holzwürfel heraus, auf dem sie gelegen hatten. Kein Wunder, das er mich an irgend etwas erinnert hatte. Es war genau die gleiche Art von Obstkiste, aus der Milo vor langer Zeit Jimmys Wägelchen gemacht hatte. Ich setzte mich auf den Boden und drehte sie langsam um. Kein Deckel. Eine leere, hohle Kiste. Ich schloß die Augen und wiegte mich niedergeschlagen hin und her. Milo hatte versucht, mir etwas zu sagen, das ich bereits wußte. Wo ich Lilys Tagebücher fände; im Gegenstück zu dieser Kiste, in der Swift Terrace. Ich drehte die Kiste um und untersuchte sie von allen Seiten, eher geistesabwesend, als weil ich damit rechnete, etwas zu finden, ansonsten hätte ich möglicherweise das winzige gedruckte Schild übersehen, das auf der Innenseite klebte: Eigentum des Drapier College.
Doch Daniel hatte gesagt, er hätte Milo die Presse geschenkt. Warum sollte das College Anspruch auf eine alte Obstkiste erheben? Die Wege der Institutionen sind in der Tat verschlungen, aber derart seltsam? Hatte Daniel nicht noch etwas gesagt, als ich gerade wegen der Erwähnung seiner Freundin geschmollt hatte? Es gibt in seinem College ein paar von der Art. Also nicht Konsole oder so etwas; sondern College. Milos Kiste war in einer der Pressen im College versteckt. Eines stand fest: In seinem Haus fände ich sie nicht.
Ich beschloß, ins Schlafzimmer zu schauen, einfach so, auf gut Glück, ob ich vielleicht noch etwas aufspürte. Vielleicht wollte ich es auch einfach nur sehen, solange ich noch genügend Kraft hatte. Und ohne Daniel. Es mußten mehr Dämonen getötet werden als einer.
Ich legte alles wieder an seinen Platz zurück, einschließlich der wunderbar geglätteten Laken. Dann löste ich das Schild mit dem Namen des Colleges ab, steckte es in die Tasche und stieg, müde vor Enttäuschung, die Treppe hinauf. Kaum brachte ich
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