Fallende Schatten
Fahrer zugeschrien, er solle anhalten. Habe behauptet, ich müsse mich übergeben. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen, das ihn dazu gebracht hätte, die Tür aufzumachen. Meinen schönsten Hut habe ich liegen lassen, aber Du warst verschwunden. Die ganze Alfred Street bin ich entlanggelaufen, und dann in die andere Richtung, durch die Bear Lane, die King Edward Street, um die Christ Church herum. Als ich bei der Merton Street angelangt war, habe ich gewußt, ich hatte Dich verloren. Fast verrückt bin ich geworden, habe die Leute gefragt, ob sie Dich gesehen hätten. Die haben auch gedacht, ich sei übergeschnappt.
Dann bin ich eine Tasse Kaffee trinken gegangen und habe in aller Ruhe nachgedacht. Es war nur gut, daß Du die Bücher nicht aufgegeben hattest, sonst wäre ich aufgeschmissen gewesen. Ich habe also angefangen, mich über die Colleges zu informieren und sie anzuschreiben. Wochen hat es gedauert, bis ich auf die Idee gekommen bin, nach Colleges zu fragen, in denen Buchbinder oder Restauratoren arbeiten. Und um ganz ehrlich zu sein, eigentlich bin gar nicht ich dahintergekommen, sondern dieser nette Mann in der Bodleian Library. Er hat gesagt, dort arbeite niemand, auf den die Beschreibung passe, aber trotzdem, er hat mich in die richtige Richtung gewiesen.
Ein Jahr. Und kein Tag, an dem ich nicht Deine liebe Stimme gehört hätte. Manchmal mache ich mir Sorgen wegen Deiner Telefonrechnungen. Ein ganzes herrliches Jahr, und wir beginnen erst zu begreifen, wie weit einen dies treiben kann. Was ich alles nicht gewußt habe! Dinge, die ich für unmöglich gehalten hätte. Unsere Körper überraschen uns selber, findest du nicht? Wir sind wie junge Liebende.
Manchmal möchte ich aufspringen und aus schierer, verrückter, wilder Freude laut schreien. Ich möchte mich irgendwo in der Öffentlichkeit hinstellen, in einem Bus oder sonst wo an irgendeiner unmöglichen Stelle, und losbrüllen, auch wenn ich mich damit zum Gespött der Leute mache. Wer sagt denn, Liebe sei nur etwas für die Jungen? Was können die schon darüber wissen? Sie haben nicht die Zeit. Und die haben wir beide. Die Zeit und die Lust. Du mein Geliebter.
Jener gesegnete Tag, an dem ich Dich zum ersten Mal gesehen habe. Du hast mich immer wieder gefragt, wann und wie ich zu Dir gefunden hätte. Und dann hast Du mich geküßt, so heftig, ich konnte nichts mehr sagen. Ich habe den Kopf und die Sprache verloren. Du machst, daß ich mich so wunderschön fühle. So jung. Ich liebe die Art, wie Du mich zum Lachen bringst und mir dann sagst, das sei das Aufregendste in der ganzen Welt für Dich – aber ich kann doch nicht sagen, was Du sagst. Du weißt es ja schon. Wo haben wir all das gelernt? Einander soviel Freude zu schenken?
Haben wir an jenem ersten Tag überhaupt geredet? Ich erinnere mich nur noch, wie du Deine Brille abgenommen und mich zu Dir hochgehoben hast. Ich habe immer wieder gesagt: Gott sei Dank habe ich Dich gefunden, aber ich glaube nicht, daß Gott irgendwo in der Nähe war. Er wäre errötet, wenn er uns gesehen hätte. Sag über diesen alten Eichentisch, was du willst.
Wie sind wir zu Dir nach Hause gekommen? Ich war zu benommen, ich kann mich nicht entsinnen. Sind wir mit dem Bus gefahren? Mit einem Taxi vielleicht? In der einen Minute haben wir uns in Deiner Werkstatt geliebt, in der nächsten auf Deinem Bett. Ich erinnere mich nicht einmal, wie wir dort hingekommen sind. Und ich kann mich an kein einziges Wort erinnern, das wir gesagt haben, außer daß Du mich gefragt hast, wo ich so lange gesteckt habe.
Seitdem habe ich oft nachgedacht, über all die Zeit, die inzwischen vergangen war. Manchmal, wenn ich fast traurig werde deswegen und bedaure, wie viele Jahre verstrichen sind, heitere ich mich mit dem Gedanken wieder auf, daß wir jetzt beide frei sind und gelernt haben, jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt. Erstaunt Dich das nicht gelegentlich, daß unsere Liebe zueinander sich nie geändert hat, die ganze Zeit nicht? Daß sie immer weitergewachsen ist, bis zu jenem Tag, an dem wir uns wiederbegegnet sind und die Explosion passiert ist. Eine Explosion hatte uns voneinander getrennt, und wir haben unsere eigene Explosion veranstaltet, als wir zusammengekommen sind.
Manchmal komme ich mir allmächtig vor. Daß mir mit Dir nichts geschehen kann. Hast Du je das Gefühl, allen Leuten sagen zu wollen, daß Du der großartigste Liebhaber der Welt bist? Das bist Du, Milo mio, das bist Du ganz gewiß. Mir ist danach
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