Fallende Schatten
es fertig, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Treppe war gerade und ziemlich steil. Den Sessellift, der die Wand entlang zum Treppenabsatz hinaufführte, nahm ich nur halb zur Kenntnis.
Die beiden Räume im ersten Stock mußten irgendwann einmal leergeräumt und neu aufgeteilt worden sein. Das Schlafzimmer war ungefähr eineinhalbmal so groß wie das Wohnzimmer und das Bad daneben dementsprechend kleiner. Von der breiten Tür aus spähte ich hinein. Und erneut wurde ich mit Milos Behinderung konfrontiert. Über der Badewanne war eine Art Hebevorrichtung angebracht, und an den weiß gekachelten Wänden zogen sich in Taillenhöhe mehrere Stangen entlang. Der Boden bestand – um nicht Gefahr zu laufen, auszurutschen – aus Kork. Es war eher praktisch als luxuriös und wie das übrige Haus makellos sauber. Auf dem Heizkörper waren zwei weiße Handtücher drapiert. Ich betastete sie geistesabwesend. Drapiert, dachte ich, und dann überstürzten sich meine Gedanken.
Drapiert. Drapier. Swift. Drapier College. Swift Terrace. Drapier’s Letters. Wer hatte Drapier’s Letters geschrieben?
Natürlich, Jonathan Swift. Nicht das College, die verdammten Bücher! Ich raste die Treppe hinunter ins Arbeitszimmer. Die Gesamtausgabe von Swift stand auf dem zweiten Bord von oben, gerade außerhalb meiner Reichweite. Aus der Küche schleppte ich einen Stuhl herein und holte Drapier’s Letters herunter.
Es schnürte mir die Kehle zu, als ich Lilys Handschrift erkannte. Drei Blätter, jedes beidseitig eng beschrieben.
12. April 1993. Ein Jahr ist es jetzt her, mein Liebster. Nie hätte ich gedacht, daß ich je diese Worte schreiben würde, nie hätte ich gedacht, daß ein solches Wunder geschehen würde. Ich habe das Gefühl, als wäre ein ganzer Himmel voller Sterne über meinem Kopf zerborsten und auf mich, auf uns herabgeregnet. Ich bin närrisch vor Freude. Giere nach Dir. Und schließe die Augen und sehe Dich. Spüre Deine lieben Arme, die mich festhalten. Ich habe das Gefühl, als wären wir ein Teil voneinander; ich habe nie begriffen, was »ein Fleisch sein« bedeutet – jetzt weiß ich es. So lange hat Du in meinem Kopf gelebt, jetzt bin ich wie betäubt von dem wirklichen Du. In meiner Vorstellung war es nie so schön. Nun sind wir vollständig – Kopf und Körper. Ich kenne Dich, Deine Stimme, Dein Lächeln, Deine Berührung. O Milo, ich muß es einfach hinschreiben. Ich muß es wirklich machen. So viele Jahre war Schreiben alles, was ich hatte, das Aufschreiben, das Mich-glauben-Machen, eines Tages, an irgendeinem Ort, würde ich Dich wiedersehen, und dann würdest du sagen – O Lily, Lily, wo hast Du so lange gesteckt?
Und genau das hast Du gesagt. Ich kann es einfach nicht fassen. Genau diese Worte hast Du gesagt. Ich hatte gedacht, Du würdest vielleicht aufblicken und diese dumme alte Frau sehen, aber das hast Du nicht getan. Du hast mich so gesehen, wie ich gewesen war, und ich habe gesehen, was Du gesehen hast. Ist das nicht das eigentliche Wunder? Ich habe die junge Lily Sweetman gesehen, und ich habe gesehen, sie war großartig. Du hast mich sehen lassen, daß wir das sind, was wir immer waren. Ein junges Liebespaar. Daß wir uns in unseren Augen nie verändern würden. Und das sind wir, geliebter Milo: eins.
Ich weiß, heute jährt sich der Tag, an dem wir uns endlich wiedergefunden, uns umarmt haben. Aber weißt du, insgeheim feiere ich auch jenen anderen Jahrestag, als ich Dich zum ersten Mal gesehen habe, und das ganz zufällig. Wenn ich daran denke, wie leicht ich Dich hätte verfehlen können. Eine oder zwei Sekunden später, und Du wärst weg gewesen. Gott sei gedankt, daß das Kind auf die Straße gelaufen ist.
Ich war zum zweiten Mal in Oxford, und auch das nur, weil ich den Bus nach Bath verpaßt hatte. Stell Dir das nur einmal vor! Ich bin dagesessen und habe aus dem Fenster ein Geschäft betrachtet, als Du aus der Bank gekommen bist. Ich erinnere mich an jede einzelne Bewegung, bin förmlich an der Fensterscheibe geklebt vor Angst, Du würdest verschwinden. Du hast den Kopf gewandt, als der Bus mit quietschenden Bremsen zum Stehen gekommen ist. Eine Sekunde lang bist Du dagestanden, hast in den Regen hinaufgeblickt, den Kragen Deines Mantels hochgeschlagen und bist die Seitenstraße hinuntergegangen, als der Bus wieder angefahren ist.
Das Hinken hätte mich beinahe zweifeln lassen, aber Dein liebes Gesicht war genau das gleiche. Ich bin im Bus nach vorn gelaufen und habe dem
Weitere Kostenlose Bücher
Zehn Mal Fantastische Weihnachten. Zehn Online Lesen
von
Sandra Regnier
,
Teresa Sporrer
,
Jennifer Wolf
,
Cathy McAllister
,
Natalie Luca
,
Jennifer Jäger
,
Melanie Neupauer
,
Katjana May
,
Mara Lang
,
Lars Schütz
,
Pia Trzcinska