Fallende Schatten
auf dem Boden sitzend wieder, zwang mich, erneut hinzuschauen und starrte auf ein Männerbein, das zwischen ordentlich aufgereihten Schuhen stand.
Ich unterdrückte einen Schrei, aber mein Zittern konnte ich nicht unter Kontrolle bringen. Es war so rosa, so unbehaart, so dünn, so künstlich. Armer Milo, dachte ich, was für ein Liebestöter. Und jetzt mußte ich lachen. Da saß ich, eben noch die Trübseligkeit und Sentimentalität in Person, aber bei dem Gedanken, mit einem einbeinigen Mann ins Bett zu gehen, lachte ich mich fast kaputt. Meine Erheiterung grenzte schon an Hysterie. Als ich mich schließlich beruhigt hatte, nahm ich behutsam das Bein in die Hand. Es war überraschend schwer. Der flaschengrüne Samtslipper an dem langen, dünnen, leblosen Fuß paßte dazu wie die Faust aufs Auge; er sah schlichtweg absurd aus. Genauso gut hätte ein Kärtchen daran geheftet sein können: Alles Liebe, Lily. Die Art von Schnickschnack, die für Weihnachtsbasars hergestellt wird. In deinem Heim bist du König – so in der Art. Daniel hatte gesagt, zu Hause hätte sein Vater das Bein immer abgeschnallt. Ich schnaubte leise. Nicht immer, dachte ich, nicht immer.
Ich hielt das Bein an mein eigenes und schätzte, Milo war über einsachtzig groß, und, falls das künstliche Bein dem echten entsprach, sehr schlank. Was mich natürlich wieder dazu brachte, über ihn und Lily nachzudenken. Hastig stellte ich das Bein wieder neben den dazugehörigen Slipper zwischen die Schuhe und blickte auf die traurige kleine Ansammlung. Ein Schuh von jedem Paar sah neu aus: lang, schmal und glatt. Die jeweiligen Gegenstücke boten einen traurigen Anblick: abgetragen, ausgeleiert, auf der einen Seite niedergetreten. Ich kniete nieder und sah nach Milos Schuhgröße. Sechsundvierzig. Mit der Handfläche strich ich über den grünen Samtslipper: glatt, schimmernd, und auf dem langen, schmalen Rist war eine alberne goldene Krone aufgestickt.
O Gott, o mein Gott, Lily, auf was, zum Teufel, hattest du dich da eingelassen? Leise und behutsam schloß ich die Tür und ging nach unten.
Ich ließ mich in den Armstuhl im Arbeitszimmer fallen, lehnte mich zurück und wartete, daß das atemlose Hämmern meines Herzens nachließ. Ich schloß die Augen, um die grauenhaften Bilder auszusperren, die aus meinem Traum zurückgekehrt waren und mich quälten. Wie viel hatte ich trotz allem bemerkt, ohne mir dessen bewußt zu werden. Was hatte ich sonst noch gesehen, das noch nicht an die Oberfläche meiner Erinnerung gedriftet war? Woher drohte die Gefahr? Vom wem? Warum? Nach dieser langen Zeit, warum?
Ich legte Lilys Brief wieder zwischen die Seiten des Buches. Das war es nicht, was Milo gewollt hatte, daß ich es fände. Das war sein geheimer Prüfstein. Seine Wirklichkeit, nicht meine. Ich wünschte, ich hätte den Brief nicht gelesen. Sie gehörte mehr ihm als mir. Meine Prüderie erschreckte mich. Beschämte mich. Ich hätte großzügig genug sein müssen, mich für sie zu freuen, aber soweit war ich noch nicht. Eine derartige Leidenschaft, eine derartige Hingabe bei meiner eigenen Mutter, das wollte ich nicht akzeptieren. Konnte es nicht. Es war obszön. Ich haßte ihn dafür, daß er mich zu dem Brief geführt hatte. Doch tief in meinem Inneren wußte ich, Verzweiflung und Schmerz hatten ihn dazu getrieben. Ich sollte wissen, sollte sehen, daß er meine Mutter glücklich gemacht hatte. Und vor allem wollte er, daß sein Sohn und ihre Tochter ihre Liebe verstünden. Aber ich nahm es ihm furchtbar übel, daß er dieses Risiko eingegangen war. Wie konnte er es wagen, mich so durcheinanderzubringen?
Als ich das Buch wieder in das Regal stellte, bemerkte ich, zwei Borde tiefer stand noch ein einzelner Band Swift. Ich zog ihn heraus. Es schien eine kurze Auswahl zu sein, einzelne Passagen aus den großen Werken. Vorne auf dem Schutzumschlag waren drei Titel genannt: Tale of a Tub, A Modest Proposal, Drapier’s Letters, 1-5, unterstrichen. Ich blätterte das Buch von hinten her durch. Zwischen Seite zwölf und dreizehn fand ich einen kleinen Zettel mit Lilys Autonummer und dem Wort malle, in Milos Handschrift.
Malle? Malle? Ich starrte die Botschaft an und bemühte mich krampfhaft, einen Sinn darin zu erkennen. Der einzige Malle, der mir einfiel, war der Filmregisseur Louis Malle. Babar! Ich lachte laut. Ich kann mich nicht erinnern, welche von meinen Freundinnen dahintergekommen war, daß malle das französische Wort für Kofferraum ist, der auf
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