Fallende Schatten
profane Probleme nachdenken. Hier ging es um Leben oder Tod. Ich hatte das Gefühl, sterben zu müssen. Jetzt. Innerhalb der nächsten paar Sekunden. Ich hasse es, die Dinge nicht unter Kontrolle zu haben. Am liebsten hätte ich laut losgeschrien.
Vorsichtig bewegte ich den Kopf und sah mich um. Ein kleines Einzelzimmer, das von einem Korridor abzweigte. Die Tür stand weit offen, und auf dem Gang sah ich Leute entlanggehen. Es brannte Licht, und draußen war es dunkel. Zu schnell drehte ich den Kopf zum Fenster und stieß unwillkürlich einen leisen Schmerzensschrei aus. Daniel schoß in die Höhe, als hätte jemand ihn in sein Hinterteil gepiekst.
»Gott sei Dank, es ist also alles in Ordnung mit dir«, sagt er.
»Überhaupt nichts ist in Ordnung. Jeder einzelne Knochen in meinem Körper brennt wie Feuer«, erklärte ich, als eine Krankenschwester mir ein Fieberthermometer in den Mund steckte. Den ich folglich halten mußte. Liebevoll nahm Daniel meine unverletzte Hand in seine und führte sie an die Lippen. Die Schwester leuchtete mir mit einer Lampe in die brennenden Augen und verkündete, ich mache zufriedenstellende Fortschritte. Ich wollte gerade mit ihr zu streiten anfangen, da kehrte die Erinnerung zurück.
»O mein Gott, Daniel. Dein Vater? Wie geht es ihm?«
»Er ist heute Vormittag kurz nach elf gestorben.«
Er schien völlig fertig zu sein. Lange sagte keiner von uns ein Wort. Er hielt meine Hand, bis ich zu weinen aufhörte. Um ehrlich zu sein, ich war mir nicht sicher, um wen ich weinte – um Milo, mich oder Lily –, aber ich hatte so eine schreckliche Ahnung, es war nichts weiter als hundsgemeines, alles überwältigendes, grauenhaftes Selbstmitleid.
Milo hatte mir das Leben gerettet. Und Daniels Mobiltelefon. Das ist nicht übertrieben. Ich hatte stark geblutet, als Daniel mich fand. Als ich um zwanzig vor eins immer noch nicht im Radcliffe aufgetaucht war, hatte er in Milos Haus angerufen. Dort hatte niemand abgenommen, also hatte er es bei Marie-Claire versucht, die ihm erklärt hatte, mein Wagen stünde immer noch auf dem Parkplatz der Pension. Er hatte angenommen, ich sei unterwegs, und eine weitere Viertelstunde gewartet, ehe ihm die Sache allmählich merkwürdig vorgekommen war. Dann war er schnurstracks zu Milos Haus gefahren. Erst am nächsten Tag berichtete er mir, daß es gründlich verwüstet worden war.
Er hatte mich auf dem Weg bei der Kirche auf halber Strecke gefunden. Jemand hatte mir mit einem scharfkantigen, schweren Gegenstand auf den Kopf geschlagen, vermutlich mit einem Felsbrocken; schließlich war dort einst ein Steinbruch gewesen. In meinem Arm klaffte eine große Wunde, und er war gebrochen. Meine Handtasche mit Milos Hausschlüsseln war natürlich weg. Und damit auch alles andere. Ich war sogar so freundlich gewesen, die Nummer für die Alarmanlage und eine praktische kleine Karte, wo genau ich hinwollte, gleich mitzuliefern. Ich konnte mir allerdings durchaus komfortablere Möglichkeiten vorstellen, ins Krankenhaus zu gelangen.
»Die Bücher im Arbeitszimmer?«
»Die meisten liegen auf dem Boden herum.«
»Die Presse?«
»Immer noch ganz, aber die Laken und Bretter waren überall verstreut.«
»Die Bücher, Dan«, setzte ich an. »Drapier’s Letters von Swift. Da drin ….« Plötzlich fielen mir die richtigen Worte nicht mehr ein. Ich fing wieder an zu weinen. Eine Schwester kam herein und gab mir eine Spritze.
»Sscht, Kleine, schlaf jetzt. Du hast Schreckliches durchgemacht.«
»Du auch«, murmelte ich, dann verschwand ich aus dieser Welt.
In der Nacht wachte ich mehrmals auf; jedes Mal pumpte man mich mit Schmerzmitteln voll und drängte mich weiterzuschlafen. Manchmal glaubte ich, wenn ich die Augen aufmachte, er sei da. Aber schließlich und endlich schien eine regelrechte Armee durch das Zimmer zu stapfen. Alle, die ich je gekannt hatte. Irgendwann einmal dachte ich, Dieter hocke auf dem Geländer, das das Bett umgab. Wie sich jedoch herausstellte, war es ein verschlafener junger deutscher Arzt, der meinen Puls maß.
»Morgen, morgen, nur nicht heute«, erklärte ich leichthin. Er lachte schallend. Seine Reaktion schien ein wenig übertrieben, also fragte ich nach einer neuen Übersetzung. Daraufhin gluckste er fröhlich. Was auch immer es war, das sie mir gegen die Schmerzen einflößten, es war offenbar ungeheuer unterhaltsam.
Am Morgen fühlte ich mich viel besser. Ich brauchte keine Streichhölzer, als ich die Augen aufmachte, obwohl mein
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