Fallende Schatten
ihr beide gerade wieder ausheckt. Ab ins Bett mit euch«, brüllte sie.
»Um Himmels willen, Mutter, zieh die Stöpsel aus den Ohren«, fuhr Hanora sie ungeduldig an. »Wir haben nicht schlafen können. Die Explosionen haben uns geweckt. Wir sind eben erst aufgestanden. Ich seh mal nach, was los ist, wartet hier.«
Nur kurz war sie weg und kam außer Atem zurück.
»Dublin ist bombardiert worden, Mutter«, verkündete sie theatralisch. »Sie suchen nach Freiwilligen, die bei den Bergungsarbeiten helfen. Auf dem North Strand wurde eine Menge Häuser getroffen. Myles und ich fahren hin«, fügte sie hinzu. »Und du gehst wieder ins Bett. Für uns besteht keine Gefahr.«
»Ihr behandelt mich in meinem eigenen Haus wie eine Idiotin. Hört nie auf das, was ich sage«, grummelte ihre Mutter. »Glaubt ihr vielleicht, ich merke das nicht? Ihr habt keinen Respekt vor eurer armen Mutter. Kinder, ihr geht auf der Stelle wieder ins Bett.« Sie schlurfte in ihr Zimmer zurück. Ihre Kinder warteten, bis die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte.
»Schnell, Milo, zieh dein Jackett aus und einen Pullover an. Draußen ist es kalt.«
»Nein. Laß mich in Ruhe, ich will ins Bett. Bitte, Han, ich kann mich nicht mehr von der Stelle rühren, ich bin völlig erschöpft«, setzte Myles an. Ungeduldig schob Hanora ihn zur Seite, rannte die Treppe hinauf und kehrte ein paar Minuten später zurück. Sie hatte eine Hose von ihm angezogen und trug zwei dicke Wollpullover über dem Arm. Wütend warf sie ihm einen zu.
»Halt den Mund und zieh das an. Buller Reynolds ist tot. Tot?« wiederholte sie. »Ich kann es nicht glauben. Bist du sicher, daß er es war, Milo?«
»Verdammt noch mal! Ich hab gesehen, wie es passiert ist. Ich habe ihn daliegen sehen. Die Hälfte von seinem Kopf war weggepustet.« Er hämmerte mit den Fäusten auf seine Schläfen ein. »Natürlich ist er tot. Und dieses verdammte Weibsbild sagt, ich hab es getan. Ich habe es nicht getan«, zischte er grimmig.
»Ich glaube dir. Hörst du mir überhaupt zu, Milo? Ich glaube dir. Natürlich hast du es nicht getan. Ich versuche, dir ein Alibi zu liefern, das ist alles. Wir müssen weg von hier.«
»Ich brauche kein Alibi. Ich habe nichts getan«, protestierte er und mühte sich mit dem Pullover ab. Leise, verzweifelt schniefte er.
»Was soll ich nur machen?« fragte er seine Schwester. »Lieber Gott, hilf mir, was soll ich bloß machen? Kein Mensch wird mir glauben.«
»Ich glaube dir, Milo«, sagte sie leise. »Ich glaube dir. Und ich werde dir helfen.« Nachdenklich sah sie ihn an.
»Glaubst du, die Frau hat gesehen, was du angehabt hast?«
Stumm nickte der Junge. Seine Schwester betrachtete ihn einen Augenblick gedankenverloren. Aber als sie schließlich den Mund aufmachte, klang ihre Stimme energisch, gelassen und kühl. Sie war die Gestalt zu seinem Schatten, und jetzt nahm sie die Sache in die Hand.
»Also gut, dann sollten wir besser dein Jackett loswerden. Das machen wir unterwegs; wirf es einfach irgendwo weg.«
Myles begann, seine Taschen auszuleeren, klopfte sie dann beunruhigt ab. Voller Entsetzen starrte er seine Schwester an.
»Verdammt noch mal, was ist denn jetzt schon wieder?«
»Mein Werkzeug. In der Leinwandtasche steht mein Name. Ich hab sie nicht mehr. Sie ist weg. Die muß ich irgendwo fallen lassen haben. Ich weiß nicht, wo sie ist.« Vor panischer Angst wurde seine Stimme lauter. »O mein Gott, Han, was soll ich jetzt machen? Ich bin erledigt. Niemand kann mir helfen. Die Polizei kriegt mich, das steht fest.«
Ehe sie antworten konnte, fuhr draußen ein Lastwagen vor. Hanora riß die Tür auf.
»Da werden sie sich schwertun«, erwiderte sie trotzig. »Du hättest sie jederzeit verlieren können. Behalt einen klaren Kopf. Du hast nichts getan, vergiß das nicht.«
Er nickte.
»Alsdann, komm schon«, forderte sie ihn auf. »Mach dir keine Sorgen, du wirst sie schon finden. Sobald die Luft rein ist.«
»Ich geh jetzt«, erklärte er und ging auf die Tür zu. »Ich schau bei Dolan vorbei. Der weiß bestimmt, was ich machen soll.«
»Schlag dir das aus dem Kopf, du Idiot. Dort wimmelt es jetzt von Leuten. Schau, wenn wir zum North Strand gehen und helfen, wer wird dann auf die Idee kommen, dich dort zu suchen? Komm schon, Milo. Es wird alles wieder gut.«
Sie streckte ihm die Hand hin. »Der Kerl, mit dem ich vorhin gesprochen habe, hat gesagt, Tausende seien tot. Die Polizei wird heute Abend was anderes zu tun haben, als dich zu suchen.
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