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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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Mund gelegt. In meinem Kopf ist alles drunter und drüber gegangen. Wenn sie gesehen hatte, wie ich die Werkzeugtasche fallen ließ, dann war sie auch Zeugin des Mords geworden. War ich damit aus der Klemme? Hätte sie mir ein Alibi geben können? Ich habe mich beeilt, um die anderen einzuholen. Meine Schwester hat mich rufen hören und das Fahrrad angehalten. Sie hat ein Bein auf den Boden gestemmt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, hat eine Kappe aus der Tasche gezogen und sich auf den Kopf gestülpt. Lächelnd hat sie sich zu mir umgedreht. Vor Entsetzen habe ich die Augen zugemacht, ais ich den Radfahrer erkannt habe.
    Vergiß nicht, ich habe nicht gewußt, wer in Wirklichkeit geschossen hatte, also habe ich gedacht, ich hätte den Mörder erkannt, nicht nur den Lockvogel. Da hat es keine Rolle mehr gespielt, daß ich unschuldig war. Falls meine Schwester angeklagt würde, dann würde man mich für ihren Komplizen halten. Noch ein Grund mehr, um davonzurennen. Ich konnte nicht einmal auch nur einen einzigen Gedanken darauf verschwenden, was Lily versucht hatte, mir zu sagen. Eine viel grauenhaftere Furcht hat mich zerfressen, mein ganzes Denken ausgefüllt. Meine angebetete, geliebte Schwester hatte mich hereingelegt. Und wenn sie das nicht vorsätzlich getan hatte, dann hatte sie zumindest die Gelegenheit ergriffen, als sie sich geboten hatte. Ich habe dir ja gesagt, sie war klug, hat schnell geschaltet. Ich war ihr kleiner Bruder, aber ich war ihr im Weg. Mein Denken hat sich in lauter Einzelteile aufgelöst. Ich habe den Kopf gesenkt und bin wie wild drauflosgeradelt, während die anderen sich wie eine Mannschaft bei der Tour de France um mich geschart haben. Unmöglich, je wieder zurückzukehren.
    Wir machen jetzt einen Sprung ins Jahr 1992, als Lily mich aufgespürt hat. Ich hatte nicht vorgehabt, mich in sie zu verlieben. Ich hatte sie nicht gesucht, sie hatte mich gefunden. Ich wollte sie nicht, aber als ich sie wiedergesehen habe, so klein und hoffnungsvoll und, oh, so voller Liebe, da konnte ich nicht anders. Ich bin schwach. Aber ich bin nicht dumm. Mir zu gestatten, Teil von Lilys Leben zu werden, war beides.
    Soll ich mich damit entschuldigen, daß ich erkläre, ich hätte zu lange enthaltsam gelebt? Daß ich sie immer geliebt habe? Daß ich ihr mein Leben verdankte? All das ist wahr, und noch vieles mehr, aber ich habe lange darüber nachgedacht, mein lieber Junge, und zwar sehr gründlich. Ich habe sie geliebt, weil ich in ihrer Gegenwart ich selber sein konnte. Mein Leben lang hatte ich in ständiger Verstellung gelebt. So endgültig hatte ich alle Brücken hinter mir abgebrochen, daß ich ein regelrechter Einsiedler geworden bin, aber das war nicht wirklich nach meinem Geschmack.
    In Oxford war ich sicher. Wer würde schon eine bestimmte Bibliothek, einen bestimmten alten Buchbinder unter so vielen suchen? In Frankreich wäre ich sicherer gewesen, aber, nun ja, Du weißt selber, Claudine und ich, wir sind zusammen nicht glücklich geworden. Sie war zu klug, zu intelligent. Schon bald hat sie gemerkt, nie würde sie wirklich an mich herankommen. Wie auch? Ich habe ja nur als meine eigene Erfindung existiert. Der Mann aus dem Nirgendwo, der immer versucht hat, sich zu verbergen. Jean-Paul hat viel besser zu ihr gepaßt, das habe ich gewußt, aber das hat das Ganze um nichts erträglicher gemacht. Beide wollten wir Dich schützen. Zumindest in der Hinsicht waren wir uns einig. Die Lösung, die wir uns ausgedacht haben, war die beste, die uns eingefallen ist.
    Ziemlich lange haben Lily und ich nicht über den Mord gesprochen. Und selbst als wir es dann versucht haben, war es eher ein Drumherumreden. Wenn man etwas für so lange Zeit begraben hat und um einen solchen Preis, dann ist es nicht einfach, es wieder hervorzuholen. Lily gegenüber brauchte ich mich nicht zu verstellen. Sie hat schnell gemerkt, wie krank ich war, wie verrückt ich werden konnte. Dennoch, eines Tages hat sie mich gefragt, ob ich den, wie sie es nannte, »wahren Schützen« gesehen hätte. Wir haben eine Art Pavane umeinander herum getanzt, uns gegenseitig mit kleinen Informationen gefüttert. Die Tagebücher haben wir verglichen, nie jedoch unsere Geschichten, wenn man es genau betrachtet. Selbst nach so langer Zeit konnte ich es einfach nicht ertragen, ihr zu sagen, daß meine eigene Schwester mich geopfert hatte.
    Ich vermute, das ist der Grund, warum ich im Lauf der Jahre so oft in der Psychiatrie war. Nie habe ich

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