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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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mir gegenüber dahingeschlendert, mir ein kleines Stück voraus. Da habe ich hinter mir ein leises Geräusch gehört. Ich habe mich umgedreht und einen Radfahrer gesehen. Als der Radler vorbeigefahren ist, habe ich mich noch tiefer in die Büsche verkrochen. Unmittelbar hinter Reynolds hat er angehalten, und vor meinen Augen hat der Radfahrer ein Gewehr gehoben und Buller erschossen. Während ich, gelähmt vor Grauen, dagestanden bin, ist Reynolds’ Kopf explodiert, und er ist zusammengebrochen. Den Radfahrer habe ich aus den Augen verloren, als ich aus dem Schatten getreten bin. Ich war zu schockiert und hatte viel zu viel Angst, um auf die andere Straßenseite zu gehen, war zu entsetzt, um davonzulaufen. In dem Augenblick hat eine Frau im Haus gegenüber ein Fenster aufgestoßen, hat auf mich gedeutet und geschrien: »Ich habe dich gesehen – Mörder!« Und dann bin ich wirklich weggerannt.
    Ich bin weggerannt, weil ich unter Schock gestanden habe. Reynolds Kopf ist vor meinen Augen praktisch in Stücke zerplatzt. Ganz aus der Nähe ist ein Mord keine so saubere Angelegenheit wie im Film. Ich bin weggerannt, weil Mrs. Brennan mich beschuldigt und behauptet hat, mich dabei beobachtet zu haben. Ich habe gewußt, wer sie ist, daher habe ich gedacht, sie hätte mich mit Sicherheit auch erkannt. Ich bin weggerannt, weil ich Angst gehabt habe. Zwei Dinge, die ich nicht gewußt habe, hätten möglicherweise meine Rettung sein können, aber ich bezweifle es. Lily hat gesehen, was passiert ist. Den Radfahrer hat sie nicht erkannt, aber das hat sie nicht für wichtig gehalten. Weil sie gesehen hat, nicht der Radfahrer, sondern ein Schütze hinter Buller hatte den tödlichen Schuß abgegeben. Zu meinem Unglück hat es fünfzig Jahre gedauert, bis sie mir das sagen konnte.
    Als ich in jener Nacht nach Hause gekommen bin, hat meine Schwester mich völlig durchgedreht vorgefunden. Augenblicklich hat sie die Sache in die Hand genommen, wie immer. Sie hat erkannt, in was für einer aussichtslosen Situation ich mich befand. Ich hatte einen Mord gesehen. Eine Zeugin hatte mich beschuldigt. Ich hatte ein Motiv: Reynolds war der Feind unserer Familie. Ich war in seiner Nähe gewesen. Außerdem hatte ich am Tatort meine Werkzeugtasche fallen lassen, in der sich unter anderem zwei scharfe Messer befanden; ein weiterer Beweis dafür, daß ich am Tatort gewesen war. Man würde mich anklagen. Wenn ich jedoch andererseits die Polizei auf die Spur des wirklichen Mörders – des Radfahrers, wie ich damals glaubte – gebracht und sie ihn identifiziert hätten, wäre ich in einer anderen, aber ebenso großen Gefahr geschwebt. Wie auch immer ich es drehte und wendete, ich war mit meiner Weisheit am Ende. Mir blieb nichts anderes übrig, als wegzulaufen und zu hoffen, die Polizei würde zu gegebener Zeit den Mörder auch ohne meine Hilfe finden.
    Bis zum nächsten Morgen hatte meine Schwester einen Plan ausgeheckt, um mich wegzubringen. Ein paar von uns würden am Pfingstmontag eine Spritztour ans Meer machen. Sie würden zurückfahren. Ich nicht. Ich würde in nördlicher Richtung weiterradeln, nach Belfast. Wir würden nur über Kleinanzeigen in der Irish Times miteinander in Verbindung bleiben. Später würde meine Schwester es mich dann wissen lassen, wenn ich gefahrlos zurückkehren könnte. Es war ein guter Plan, und ich habe zugestimmt. Als wir losfuhren, sind jedoch zwei Dinge geschehen.
    Montag, der 2. Juni 1941, der zweitschlimmste Tag in meinem Leben. Ungefähr um acht Uhr sind zehn oder zwölf junge Leute aufgetaucht. Wie das Ganze organisiert worden ist, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich bin als letzter losgefahren. Meine Schwester ist zusammen mit einem meiner Freunde, der sie ziemlich bewundert hat, auf einem Tandem gesessen. Sie haben herumgealbert, wahrscheinlich um von mir abzulenken, und alle haben gelacht. Sie hat eine von meinen alten Hosen angehabt. Nie zuvor hatte ich sie in Hosen erlebt, und sie hat wundervoll ausgesehen, wie eine dunkelhaarige Marlene Dietrich. Gut ausgesehen hat sie immer, aber an jenem Morgen war sie hinreißend.
    Es war wunderschönes Wetter, ungewöhnlich warm und sonnig. Gerade als ich losgefahren bin, habe ich Lily wie eine kleine Statue unter dem Vordach eines leeren Ladens ein paar Häuser von uns entfernt stehen sehen. Wir haben kein Wort miteinander gewechselt, aber als unsere Blicke sich begegnet sind, hat sie meine Werkzeugtasche an ihre Brust gedrückt und den Finger auf den

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