Fallende Schatten
mich dem eigentlichen Grund meiner Verrücktheit gestellt. Ich konnte es nicht. Es war viel einfacher, so zu tun, als hätte der Krieg meine Nerven zerrüttet. Das fehlende Bein war eine gute Krücke für diese Theorie, wenn Du mir das Wortspiel gestattest.
Der Anfang vom Ende war der fünfte Mai dieses Jahres, noch ein Datum, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. So kurze Zeit ist es erst her. Ich will versuchen, es so aufzuschreiben, wie es abgelaufen ist. Ich hatte Lily mehrere Wochen lang nicht gesehen, war in eines meiner schwarzen Löcher gefallen und noch nicht wieder daraus aufgetaucht. Sie war übers Wochenende herübergekommen, aber von dem Augenblick an, als sie hereinkam, ist mir aufgefallen, daß sie ungewöhnlich still, besorgt war. Sie hat es immer fertiggebracht, daß ich mich entspannt, glücklich gefühlt habe, aber diesmal hat es nicht funktioniert, vielleicht weil wir beide es allzu sehr wollten. Ich kann mich nicht genau erinnern, wie wir darauf zu sprechen gekommen sind, aber plötzlich hat Lily die Bemerkung fallen lassen, sie sei die Schneiderin meiner Schwester. Da habe ich rot gesehen.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?« habe ich sie in scharfem Ton gefragt. Ich habe gespürt, gleich bekomme ich einen Anfall. Ich wollte in mein Zimmer hinauf und mich einsperren. Ich wollte sie nicht bei mir haben. Ich habe zu weinen angefangen, habe verzweifelt gewollt, daß sie aufhört zu reden, mich allein läßt. Aber dazu war Lily zu mutig. Sie hat meine Hand in ihre genommen.
»Ich hasse es, Geheimnisse vor dir zu haben. Schon die ganze Zeit wollte ich es dir sagen. Milo, hör mir zu. Ich habe nicht nach ihr gesucht, Rose Vavasour hat sie zu mir geschickt, schon vor Jahren.«
»Redet ihr über mich?« habe ich ängstlich gefragt.
»Nie. Wie kannst du so etwas fragen?« Sie lachte bitter, streichelte meine Hand. »Deine Schwester ist nicht wie du, mein Liebling, kleine Dinge wie mich nimmt sie nicht wahr. Ich bin ihre Schneiderin, das ist alles. Für sie existiere ich ansonsten nicht. O Milo, ich habe doch versprochen, nie etwas zu sagen. Vertraust du mir nicht? Milo? Du mußt reden. Zu lange hat das alles angedauert. Wir müssen die Vergangenheit beiseite räumen. Wir müssen uns von ihr befreien.«
Ich habe kein Wort herausgebracht. Habe mich hin und her gewiegt, und da ist sie aufgestanden und hat sich hinter mich gestellt. Sie hat ihre Hände auf meine Schultern gelegt und versucht, mich zu beruhigen. Ihr Gesicht habe ich nicht sehen können.
»Liebster? Milo? In jener Nacht, auf dem Fahrrad, das war deine Schwester, nicht wahr?«
Ich habe mich weiter hin und her gewiegt. Nach ein paar Minuten hat sie es erneut versucht.
»Ich habe dir nie gesagt, wer der Schütze war, oder? Milo, hörst du mir zu? Weißt du, wer es war?«
Ich habe den Kopf geschüttelt. Ihre Hände haben sanft meinen Nacken massiert. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Ich wollte es nicht wissen.
»Es war Dolan Hanion«, hat sie gesagt, ganz ruhig. »Sein Bruder Tony hat auch mit dringesteckt.«
»Woher willst du das wissen? Du hast die Hanions doch nicht mal gekannt, oder?« Ich habe vor Wut geschäumt.
»Damals nicht. Und genau das hat mich die ganze Zeit so verwirrt. Du erinnerst dich an den Lastwagen, der euch abgesetzt hat, als ihr alle vom North Strand zurückgekommen seid? Ich habe gesehen, wie ihr die Straße heraufgekommen seid. Er hat angehalten, um Jack Murphy aussteigen zu lassen. Ich habe gedacht, er würde weiterfahren, weil niemand anderer aus der Daedalian Road in jener Nacht da draußen war. Und ich war sehr erstaunt, als die Hanions heruntergesprungen sind, ein paar Worte mit dem Sergeant gewechselt haben und dann gelassen wie sonst was in die Nummer elf gegangen sind. Sie haben die Schnur mit dem Schlüssel aus dem Briefkasten gezogen, haben also gewußt, daß er da war. Ansonsten hat niemand sonderlich auf sie geachtet. Der Fahrer hat sich mit Sergeant O’Keefe unterhalten. Milo, sie haben gewußt, der Schlüssel war da.«
»Viele Leute lassen ihre Schlüssel im Briefkasten.«
»Ich weiß. Aber, Milo, Nummer elf war das Haus, in dem der Schütze verschwunden ist.«
»Das verstehe ich nicht. Warum hätten sie die Aufmerksamkeit auf sich lenken sollen? Das ist verrückt, das ist dumm. Du träumst. Du erinnerst dich falsch.« Ich wollte nichts davon hören. Die Hanions waren mit mir zusammen in die Schule gegangen. Ihr Vater war Vorarbeiter in der Druckerei gewesen, und er hatte
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