Fallende Schatten
sich um meine Schwester und mich gekümmert. Die beiden Jungen hatten auch dort gearbeitet, sie waren unsere besten Freunde gewesen. Ich wollte, daß sie aufhört. Ich wollte meine Ruhe haben.
»Nicht verrückt, Milo, raffiniert. Teuflisch raffiniert. Die haben Sergeant O’Keefe nicht unterschätzt. Sie haben sich ausgerechnet, daß er über kurz oder lang dahinterkommen würde, wo der Schütze sich versteckt hatte. In dem Haus haben drei oder vier Burschen in ihrem Alter gewohnt. Sie haben Verwirrung gestiftet. Mich haben sie auf jeden Fall gründlich durcheinander gebracht. Ich habe mir einfach nicht vorstellen können, worauf sie hinauswollten.«
»Aber jetzt schon?«
»Ich schätze, sie sind wegen dem Gewehr da rein und durch die Hintertür wieder raus. Irgendwie so muß es gewesen sein.«
Lange Zeit haben wir einander angeschaut. Ich glaube, wir haben beide gewußt, das, was uns so lange zusammengeschweißt hatte, riß uns jetzt allmählich auseinander. Am Ende hatten wir Angst davor, ehrlich zueinander zu sein.
»Milo, sie haben die Druckerei von Reynolds übernommen. Es hat Jahre gedauert, bis mir das klar geworden ist. Sie haben ein großes Unternehmen daraus gemacht, aber von außen her hat es nach wie vor so heruntergekommen ausgesehen wie eh und je, und das mit Absicht. Als der Krieg zu Ende war, das muß gewesen sein, nachdem Maisie Reynolds nach England zurückgekehrt war, ist das Schild abmontiert worden. Von da an hieß die Firma Raytown Druckerei. Es hieß, die Arbeiter leiteten das Unternehmen, aber in Wirklichkeit war es deine Schwester. Sie und die Hanions. Sie hat Tony geheiratet. Er ist Mitglied des Parlaments geworden und mit sechsundvierzig an einem Herzinfarkt gestorben. Dann hat sie sich mit Dolan zusammengetan. Sie hat sie beide überlebt.«
Lily hat sich einen Stuhl herangezogen und sich neben mich gesetzt, aber ich wollte ihr nicht ins Gesicht sehen. Da hat sie uns beiden einen steifen Whiskey eingeschenkt.
»Wann bist du dahintergekommen?« habe ich nach einer langen Pause gesagt. Ich habe ihre Hand in meine genommen. Sie war warm und weich, aber kraftvoll wie sie. Sehr ruhig ist sie dagesessen, ganz reglos. Lily hatte diese seltsame, wundervolle Eigenschaft, still sein zu können. Bei ihrem Anblick hat man immer gedacht, sie sei ständig in Bewegung, wie Quecksilber. Aber sie konnte mich beruhigen wie niemand sonst.
»Das hat Jahre gedauert. Bis 1981. Zu jedem zehnten Jahrestag der Bombardierung des North Strand erscheint ein Artikel in der Zeitung. Nur ein kleiner. Ich habe sie immer ausgeschnitten, warum, weiß ich selber nicht so genau. Es hat mich immer dazu gebracht, noch einmal über all das nachzudenken. Und über dich. Vielleicht eine kleine Schwäche von mir.« Dazu hat sie wehmütig gelächelt.
Irgend etwas an ihrer Stimme hat mich dazu bewogen, sie anzuschauen, aber ihre Blicke sind meinen nicht begegnet. Sie war von dem abgeschweift, was sie hatte sagen wollen, und ich konnte, wollte uns beide nicht retten, indem ich sie zurückholte.
»Ich glaube, da habe ich endlich begriffen, warum du nicht zurückgekehrt bist, und habe allmählich gehofft, du wärst vielleicht gar nicht tot«, hat sie leise gesagt und erneut traurig gelächelt. Ganz behutsam hat sie meinen Handrücken gestreichelt, immer wieder. So winzig hat sie ausgesehen, so am Ende plötzlich. Irgendwie habe ich gewußt, meine Entschlossenheit, mich zu schützen, hatte sie ein zweites Mal unterliegen lassen.
33
Ich legte Milos Brief weg, steckte ihn zusammen mit dem von Daniel in den Umschlag zurück und wünschte, ich hätte ihn nie gelesen, wünschte, ich wüßte nicht, daß Lilys Traum zerborsten war. Aber vielleicht war er das gar nicht? Sie hatte sich keinerlei Illusionen über Milo gemacht, hatte ihn immer so geliebt, wie er war. Sicher hätte es mehr bedurft als dieses einen Vorfalls, um ihre Liebe zu ihm zu erschüttern?
Mitten in der Nacht, als ich nicht schlafen konnte, kramte ich erneut ihre Kassette hervor. Diesmal suchte ich nicht nach irgendwelchen Lösungen. Ich war ziemlich sicher, sie hatte die ganze Geschichte großteils geklärt. Ich wollte jedoch endlich wissen, was Milo in jener Nacht in der Daedalian Road gewollt hatte. Was war der eigentliche Grund für Lilys unerschütterliche Zuneigung für ihn gewesen?
Ich las die Unterlagen der Reihe nach, von oben her, so wie sie sie angeordnet hatte. Und so stieß ich auf das, wonach ich gesucht hatte, verstohlen – wie sie es beabsichtigt
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