Fallende Schatten
irgendwelche Fragen über den Tod ihrer Mutter zu stellen. Was auch immer sie macht, laß sie keine Fragen stellen.
Ich hoffe, dieser Brief kommt nicht zu spät. Ich hatte gedacht, die ganze verfluchte Geschichte würde mit mir begraben, aber ich bin auf Lilys Beerdigung gewesen und habe gesehen, wie Reynolds das Mädchen angesprochen hat. Von Lily habe ich gewußt, daß er es gewesen ist, der die Büchse der Pandora geöffnet hat. Danny, Du mußt Nell Gilmore finden. Sie arbeitet für irgendeine Spedition in Heathrow. Morgan heißt es, glaube ich. Finde sie und rede mit ihr, sag ihr, was ich Dir gesagt habe, bitte sie, mir zu vergeben.
1941 sind Lily und ich Zeugen eines Mordes geworden, und man hat mich beschuldigt. Ich bin weggerannt und habe seitdem nicht aufgehört davonzulaufen. Und diejenigen, die es besser gewußt haben müssen, haben mir nicht gesagt, daß ich entlastet war. Ich habe gewußt, ich war unschuldig, aber ich fürchte, ich hatte erraten, wer in Wirklichkeit der Mörder war. Und schließlich ist mir klar geworden, daß ich auch gewußt habe, wer der Komplize des Mörders war. Das ist das Schlimmste am Ganzen. Lily ihrerseits hat sowohl den Mörder als auch den Komplizen gesehen, hat aber glücklicherweise damals keinen von beiden erkannt. Zumindest glaube ich das, aber ich bin mir nicht mehr sicher. Sie war es so sehr gewöhnt, mich zu schützen, möglicherweise hat sie versucht, mich auch davor zu beschützen. Glücklicherweise hatten die Mörder keine Ahnung, daß es sie gab, und noch viel weniger davon, daß sie Zeugin des Mords geworden war. Der Polizist scheint sich sehr bemüht zu haben, sie zu schützen. Aber für Lily hättest du das auch getan. Sie war etwas ganz Besonderes.
Niemand ist je angeklagt worden. Schließlich hat man das Ganze vergessen, unter den Teppich gekehrt. Solange ich mich ferngehalten habe und niemand etwas von Lily gewußt hat, waren wir sicher.
Es war Krieg damals. Wie viele irische Jungen meines Alters habe auch ich mich freiwillig gemeldet – o ja, ich bin Ire, noch etwas, das ich nicht erwähnt habe –, bei der Marine. Es war einfach das erste Rekrutierungsbüro, über das ich in Belfast gestolpert bin, fünf Tage nach dem Mord. Drei Tage später war ich in Portsmouth. Nach einem halben Jahr hat man mich nach Schottland und in die Vergessenheit geschickt. Meine Spuren habe ich verwischt, so gut ich konnte. Niemandem habe ich getraut, habe nichts gesagt. Seit ich weggelaufen bin, habe ich meiner Familie weder geschrieben noch irgendwie Verbindung mit ihr aufgenommen. Ich wußte, wo sie waren, das hat genügt. Und ich habe dafür gesorgt, daß sie keinen Kontakt mit mir aufnehmen konnten. Noch, über sie, irgend jemand anderer. So habe ich mich sicherer gefühlt.
1944 wurde ich wegen nervöser Erschöpfung als dienstuntauglich aus der Marine entlassen – mein erster Nervenzusammenbruch. Mein Bein habe ich eingebüßt, als eine V2 das Krankenhaus getroffen hat. Fast zwei Jahre lang bin ich krank gewesen, daher habe ich nicht gewußt, daß ich als gefallen gemeldet worden war. Ein bürokratischer Irrtum, so nennt man das, glaube ich. Zuerst habe ich mich darüber geärgert, aber bald ist mir klar geworden, genau das wollte ich ja. Meine Angehörigen haben mich für tot gehalten.
Ich habe es dabei belassen. Nach Irland zurückzukehren hatte ich nicht vor. Ich habe gewußt, in dem Augenblick, wenn ich zurückkomme, würden sie mich umbringen. 1943 ist meine Mutter nach jahrelangem Siechtum an Lungenentzündung gestorben. Heutzutage hätte man bei ihr, glaube ich, vorzeitigen Altersschwachsinn diagnostiziert, aber damals war sie nichts weiter als eine törichte alte Frau. Sie war erst sechsundfünfzig.
In Salisbury habe ich eine Stelle als Buchbinder gefunden. Einen Lehrvertrag konnte ich nicht vorweisen, aber schon damals war ich ein geschickter Drucker und bin mir auch nicht zu schade dafür gewesen, hin und wieder eine Fälschung anzufertigen. Mein erster Arbeitgeber hatte mich gut ausgebildet, und nach der Anstellung in Salisbury hatte ich keine Schwierigkeiten, andere Stellen zu bekommen.
Mitte der fünfziger Jahre bin ich nach Cambridge gezogen und habe dort kurz danach Deine Mutter kennengelernt. Ich war froh, nach Frankreich gehen zu können. Das hat mir die Aussicht auf ein neues Leben eröffnet. Deine Großeltern waren sehr großzügig, haben Arbeiten für mich gefunden, die ich erledigen konnte. Fast ohne es zu bemerken bin ich der zweite Monsieur
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